Marlene Suson 1
ich kenne doch die Handschrift meines Bruders und meiner Schwe- ster.‚
Genau wie Jerome davon überzeugt gewesen war, Rachels Handschrift zu kennen.
„Begreifst du jetzt, Jerome?‚ meldete Morgan sich zu Wort. „Da sind eine Menge Briefe von Rachel im Umlauf, die sie nie geschrieben hat.‚
„O ja.‚ Jetzt erinnerte Jerome sich auch daran, wie energisch Sophia Wingate darauf bestanden hatte, daß alle Post von und nach Wingate Hall durch ihre Hände ging.
„Rachels Schrift ist unverwechselbar‚, beharrte George.
„Ja, ich weiß.‚ Jerome nickte. Kein Wunder, daß Rachel so sprachlos war, als er sie mit den Briefen konfrontiert hatte. „Ihr Bruder wurde schanghait, als er vor über einem Jahr von Calais nach Dover kam.‚
George fuhr im Sattel zurück. „Mein Gott, das darf doch nicht wahr sein! Wo ist er jetzt?‚
„Er hat einen Fluchtversuch gemacht. Ein paar Meilen vor der amerikanischen Küste ist er über Bord gesprungen. Offenbar hat er die Positionslampen eines vorbeifahrenden Schiffes für Lich- ter auf dem Festland gehalten.‚
„Ist er ...‚ Georges Stimme blieb ihm im Hals stecken.
„Ich fürchte, ja‚, sagte Jerome leise. „Es tut mir so leid.‚
Im Mondlicht sah er Tränen auf Georges Wangen glänzen.
„Alle Briefe, die Sie von ihm erhalten haben, müssen gefälscht worden sein.‚
Verwirrt und bekümmert sah George ihn an. „Wer sollte sich diese Mühe gemacht haben, und warum?‚
„Jemand, der Sie davon abhalten wollte, nach Stephens Ver- schwinden zurückzukommen und Anspruch auf Wingate Hall zu erheben‚, sagte Jerome.
„Aber wer?‚
„Sophia Wingate.‚ Dessen war Jerome nun völlig sicher. „Ihr Bruder hat angeblich ein Dokument hinterlassen, in dem er Ihrem Onkel Alfred die Leitung des Besitzes überträgt, falls ihm etwas zustößt, und . . . ‚
„Nie im Leben hätte Stephen das getan!‚ fiel George ihm ins Wort. „Er hielt meinen Onkel immer für völlig vertrottelt.‚
„Nach dem, was Sie uns berichtet haben, ist dieses Dokument höchstwahrscheinlich auch eine Fälschung‚, sagte Jerome. „Die Briefe, die Sie erhalten haben, sollten zweifellos bewirken, daß Sie keinen Verdacht schöpfen. Haben Sie sie mitgebracht?‚
George klopfte mit der Hand auf seine Satteltasche. „Ja, ich habe sie hier.‚
„Gut. Ich möchte sie mit zwei Briefen vergleichen, die ich auf Royal Elms habe.‚
Jerome gab seinem Pferd die Sporen, und die anderen Reiter folgten ihm. Ein paar Minuten später betraten sie die große Mar- morhalle von Royal Elms.
Dort trafen sie auf die Haushälterin, die Jerome mit einem so ungnädigen Blick bedachte wie schon lange nicht mehr. Doch er hatte so viel anderes im Kopf, daß er keine Zeit hatte, sich um die Launen seiner Haushälterin zu kümmern.
„Mrs. Needham, sagen Sie meiner Frau, daß ich sie sofort im Salon zu sprechen wünsche.‚
Der Blick der Haushälterin wurde noch abweisender. „Nein,
das werde ich nicht tun, Euer Gnaden‚, gab sie entschieden zu- rück. „Es ging ihr heute abend gar nicht gut, und sie ist früh zu Bett gegangen. Sie schläft jetzt, das arme Ding, und ich werde sie nicht wecken.‚
Alarmiert wandte Jerome sich zur Treppe, um selbst zu Rachel hinaufzugehen.
„Schlaf ist in ihrem Zustand das Beste für sie‚, sagte Mrs. Needham mit scharfer Stimme. „Wenn Sie ihr einen Gefallen tun wollen, Euer Gnaden, dann lassen Sie sie schlafen, bis sie von selbst aufwacht.‚
Abrupt blieb Jerome stehen. In ihrem Zustand. Schwanger mit seinem Kind, das er grausam verleugnet hatte! Er kam sich vor wie der letzte Schweinehund.
Er erinnerte sich daran, wie erschöpft – und niedergeschmet- tert – Rachel ausgesehen hatte. Mrs. Needham hatte recht. Ra- chel brauchte ihren Schlaf. So sehr er sich auch wünschte, auf der Stelle zu ihr zu gehen und zu versuchen, den Schaden wieder gutzumachen, den er angerichtet hatte – die ungestörte Ruhe war jetzt sicher besser für sie. Ihr zuliebe wollte er seine Ungeduld zügeln.
Er würde alles für Rachel tun.
Er wandte sich von der Treppe ab und ging in den Salon. „Ihre Schwester wird überglücklich sein, Sie wiederzusehen‚, sagte er zu George, der ihm gefolgt war.
„Nicht halb so glücklich, wie ich sein werde. Die Ironie dabei ist, falls Stephen wirklich tot sein sollte, gehört Wingate Hall ihr, nicht mir. Das weiß sie allerdings nicht.‚
Jerome und Morgan tauschten einen beredten Blick. „Wieso?‚ fragte Jerome beiläufig.
„Ich versprach
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