Marlene Suson 1
weggenommen und häufig zu armen Leuten aufs Land gegeben, die es in Schmutz und Elend aufzogen, bis es eines frühen Todes starb. Solchen Kindern blieb nur eine Hoffnung: Daß der leibliche Vater ein anderes Arrangement für seinen außerehelichen Sproß traf.
Doch welche Hoffnung blieb Rachels ungeborenem Kind, wenn Jerome nicht an seine Vaterschaft glaubte?
Sie würde ihr Kind nicht einem so schrecklichen Schicksal ausliefern. Nie würde sie es aufgeben. Und sie war auch nicht bereit, sich weiter dem Zorn und Haß ihres Mannes auszusetzen.
Maxi kam herbeigetrottet und drückte sich an Rachels Bein. Sie nahm ihn auf den Arm und schmiegte die Wange in sein Silberfell. Nein, sie konnte nicht unter Jeromes Dach bleiben, wenn er so schlecht von ihr dachte.
Doch was sollte sie tun? Mit sinkendem Mut kam ihr zum Be-
wußtsein, daß es nur einen einzigen Ort gab, wohin sie gehen konnte.
Wingate Hall.
Der Gedanke war Rachel verhaßt. Wingate Hall war nicht mehr ihr Zuhause, nicht mehr, seitdem Tante Sophia dort das Zepter schwang. Aber Rachel hatte keine andere Wahl.
Sophia würde nicht davon erbaut sein, ihre Nichte wieder auf Wingate Hall aufzunehmen. Vielleicht konnte Rachel Onkel Al- fred dazu bewegen, ihr ein wenig Geld zu geben, damit sie an- derswo unterkam. Die Aussicht dafür war jedoch gering, denn Sophia würde mit Sicherheit Einspruch einlegen.
Als Rachel vor dem Haus das Geklapper von Pferdehufen hörte, hob sie den Kopf. Sie ging ans Fenster und schaute hinaus. Jerome, Morgan und Ferris ritten gerade von den Ställen weg. Rachel fragte sich bedrückt, ob Jerome seinem Bruder wohl diese entsetzlichen Briefe gezeigt hatte. Wenn ja, würde Morgan sie jetzt ebenso hassen wie ihr Mann.
Konnte sie ihnen einen Vorwurf daraus machen? Die Schrift auf den Briefen sah ja tatsächlich aus wie ihre. Es war wirklich kaum zu glauben, daß sie sie nicht geschrieben hatte.
Die tägliche Postkutsche würde in einer Stunde am „Crown Inn‚ abfahren. Wenn Rachel sich beeilte, konnte sie sie noch erreichen. Damit ihr unberechenbarer Mann sie nicht an der Abreise hindern konnte, mußte sie dafür sorgen, daß ihr Ver- schwinden so spät wie eben möglich entdeckt wurde.
Sie mußte sich so verkleiden, daß niemand sie erkannte. Der schwarze Umhang fiel ihr ein, den sie auf dem Dachboden gefun- den hatte, und der Hut mit dem dichten Schleier. Darin würde niemand sie erkennen.
Unglücklicherweise würde sie Maxi nicht mitnehmen können, denn das wäre viel zu auffällig. Sie mußte ihn auf Royal Elms zurücklassen, zumindest vorläufig. Jerome hatte den kleinen Terrier ins Herz geschlossen. Rachel war sicher, daß er sich gut um ihn kümmern würde.
Mrs. Needham kam herein, um das Tablett wieder abzuholen. Was für ein Glück, daß Rachel vor Jeromes Ankunft gegessen hatte, denn sie hatte das Gefühl, nie im Leben wieder etwas hinunterwürgen zu können.
Den scharfen Augen der Haushälterin entging nicht, wie rot und verschwollen Rachels Augen waren. „Fehlt Ihnen etwas, Euer Gnaden?‚ fragte sie besorgt.
Rachel ergriff die Gelegenheit beim Schopf, die Mrs. Needham ihr unbeabsichtigt bot. „Ja, ich fühle mich miserabel.‚ Was der Wahrheit entsprach. „Ich gehe jetzt gleich zu Bett.‚ Was nicht der Wahrheit entsprach. „Ich möchte bis morgen früh von nie- mandem und unter keinen Umständen gestört werden.‚
„Armes Kind. Sie wirken völlig erschöpft. Ein bißchen Schlaf ist jetzt sicher das Beste für Sie.‚
Mrs. Needham wirkte so ehrlich besorgt, daß Rachel sich schämte, sie derart zu täuschen. Doch es war unabdingbar für ihren Plan. Wenn sie Glück hatte, würde man ihr Verschwinden erst am nächsten Morgen entdecken.
Als die Haushälterin gehen wollte, hielt Rachel ihr den klei- nen Hund hin. „Bitte nehmen sie Maxi mit, damit er mich in der Nacht nicht weckt. Vielleicht hat die Köchin einen Knochen für ihn in der Küche.‚
„Gewiß, Euer Gnaden.‚ Mrs. Needham nahm das Tablett in die eine Hand und klemmte sich Maxi unter den Arm. „Ich küm- mere mich schon um ihn.‚
Nachdem die Haushälterin mit Maxi gegangen war, begab sich Rachel zur Verbindungstür, schloß sie ab und steckte den Schlüssel in die Tasche.
Sie schrieb ein paar Zeilen an Jerome und legte den Zettel auf ihr Kopfkissen. Dann fuhr sie in ein Paar bequemer Schuhe, zog den schwarzen Umhang an und setzte den Hut auf.
Wenn sie die Grenze von Bedfordshire erst einmal unerkannt überschritten hatte, würde sie die
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