Marlene Suson 1
Messer ins Herz gestoßen. Die Wunde schmerzte um so mehr, als er wußte, daß seine eigene Blindheit und man- gelndes Vertrauen die Schuld daran trugen. Liebe bedeutet Ver- trauen, hatte Rachel gesagt, und sie hatte recht.
Wohin war sie gegangen, und wann? Sie mußte Royal Elms am frühen Morgen verlassen haben. Wieviel Vorsprung mochte sie haben? Fünf, höchstens sieben Stunden. Er dachte an die toten Kätzchen, und Übelkeit stieg in ihm auf.
Er drehte sich um und rief Mrs. Needham zu: „Schicken Sie jemanden zu den Ställen. Ich will wissen, wann und wie meine Frau Royal Elms verlassen hat, und ob sie gesagt hat, wohin sie will. Fragen Sie alle Dienstboten, ob jemand etwas weiß.‚
Er ging in sein Zimmer zurück, fuhr hastig in seine Reitklei- dung und lief dann die Treppe hinunter.
Ferris kam gerade mit besorgtem Gesicht in die Halle. „Nie- mand hat Ihre Frau bei den Ställen gesehen, seit sie aus London zurück ist. Es fehlt auch kein Pferd, und sie hat niemanden um
Hilfe gebeten. Wahrscheinlich ist sie zu Fuß unterwegs. Dann kann sie noch nicht weit gekommen sein.‚
Erleichterung durchflutete Jerome. Seine größte Angst war, das Rachel versuchen könnte, nach Wingate Hall zurückzukehren. Wenn sie sich freilich zu Fuß auf den Weg gemacht hatte, wollte sie vermutlich in der Gegend bleiben – vielleicht in der Hoffnung, daß er, Jerome, wieder zu Verstand kam.
„Nimm dir ein paar Männer und laß sie alle Straßen und jeden Weg absuchen‚, befahl er. „Sie sollen jeden, der ihnen begegnet, fragen, ob er meine Frau gesehen hat.‚
Er eilte zu den Ställen und ließ Lightning satteln. Während er wartete, überlegte er, bei wem Rachel Unterschlupf gesucht ha- ben könnte. Ein paar Minuten später ritt er in halsbrecherischem Galopp in Richtung der Taggart-Farm davon.
Doch die Taggarts wußten nichts von Rachels Verbleib.
Als Jerome zum Haus zurückkehrte, wurde er schon von Ferris erwartet. „Bis auf einen oder zwei sind alle Männer inzwischen zurück. Niemand hat eine Spur von ihr gefunden.‚
Rachel konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben! Halb verrückt vor Sorge, rannte Jerome wieder ins Haus, wo er auf die Haushälterin stieß. „Was sagen die Dienstboten?‚
„Jane, die Spülmagd, glaubt gesehen zu haben, daß Ihre Gna- den gestern abend zu Fuß das Haus verlassen hat.‚
„Was soll das heißen, sie ,glaubt’?‚ stieß Jerome unbeherrscht hervor. „Herrgott, sie weiß doch wohl, wie ihre Herrin aussieht.‚
„Nicht, wenn sie einen weiten schwarzen Umhang trägt und so tief verschleiert ist, daß man ihr Gesicht nicht erkennen kann‚, gab die Haushälterin mit scharfer Stimme zurück.
Jerome hatte das Gefühl, als hätte er einen Hieb in den Magen bekommen. Die Frau fiel ihm ein, die er gestern abend in der Postkutsche gesehen hatte. Gott steh mir bei, dachte er. Ob das am Ende Rachel war?
Eine furchtbare Angst preßte ihm das Herz zusammen, und er schloß die Augen. Rachel war auf dem Weg nach Wingate Hall!
Er mußte sie aufhalten. Wenn sie Wingate Hall erreichte, be- deutete das ihr Todesurteil. Er stob zur Haustür und schrie aus vollem Hals nach Morgan, George und Ferris. Einen Augenblick später kamen sie herbeigerannt.
Während die vier Männer im gestreckten Galopp nordwärts rit- ten, betete Jerome um die Sicherheit seiner Frau, wie er nie zuvor
in seinem Leben gebetet hatte. Mit Freuden hätte er sein Herzog- tum, sein Vermögen und alles, was er besaß, hergegeben, wenn er dafür seine Frau wieder in die Arme schließen könnte.
Wenn ihr etwas zustieß, hätte sein Leben keinen Sinn mehr. Er wußte, daß er sich nie verzeihen könnte, was er ihr angetan hatte.
Jerome versuchte abzuschätzen, wieviel Vorsprung die Post- kutsche haben mochte. Eigentlich müßten sie sie einholen kön- nen, bevor sie den „White Swan‚ erreichte, wo Rachel ausstei- gen würde. Doch es würde knapp werden. Und selbst wenn es ihm gelang, Rachel vor Sophia zu schützen, war das noch längst keine Garantie dafür, daß sie ihm sein unberechtigtes Mißtrauen verzieh.
Ich wäre lieber tot, als mit einem Mann zu leben, der abstreitet, der Vater unseres Kindes zu sein. Unser Baby hat etwas Besseres verdient, und das habe ich auch.
Wenn sie ihn ließ, würde Jerome den Rest seines Lebens damit verbringen, alles wieder gutzumachen.
Wenn sie ihn ließ. Sie konnte genauso halsstarrig sein wie er. Mit wehem Herzen erinnerte er sich daran, wie aufrecht und stolz sie vor Sophia
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