Marlene Suson 1
meinem Vater, im Fall von Stephens Tod würde ich entweder meinen Abschied nehmen – was ich auf keinen Fall will – oder Wingate Hall fällt an Rachel. Sie kann den Besitz viel besser verwalten, als Stephen oder ich es je könnten.‚
Mit schmalen Augen sah Morgan George an. „Warum waren Sie dann so wütend, als Ihr Vater darauf bestand, daß Sie die Vereinbarung unterzeichnen?‚
Sichtlich überrascht stieß George hervor: „Woher wissen Sie das?‚
„Ich habe so meine Quellen‚, gab Morgan ausweichend zurück. „Wollen Sie meine Frage nicht beantworten?‚
„Ich war so wütend – und gekränkt – weil mein Wort meinem
Vater nicht genügte, und weil er diese schriftliche Vereinbarung für notwendig hielt. Mein Wort ist mir heilig, und ich würde es niemals brechen.‚
Ein anerkennender Blick lag in Jeromes Augen. „Angesichts der anderen Briefe, die Sie erhalten haben, muß meiner Sie ziemlich erstaunt haben.‚
„Um die Wahrheit zu sagen, ich hatte schon länger so ein komi- sches Gefühl, obwohl ich nicht genau hätte sagen können, wes- halb. Ich glaube, es lag an Stephens Briefen. Sie waren so un- typisch für ihn. Als ich dann Ihren Brief bekam, habe ich sofort ein Urlaubsgesuch eingereicht und das erste Schiff nach England genommen.‚
Ein entsetzter Ausdruck flog über sein Gesicht. „Mein Gott, glauben Sie, daß Sophia, oder wer immer die Briefe gefälscht hat, für Stephens Verschwinden verantwortlich sein könnte?‚
„Das halte ich für äußerst wahrscheinlich‚, gab Jerome zurück. „Da waren auch zwei mißlungene Anschläge auf das Leben Ihrer Schwester, bevor sie Wingate Hall verließ.‚
Alle Farbe wich aus Georges Gesicht. „Bevor sie Wingate Hall verließ? Wo, zum Teufel, ist sie denn? In Sicherheit?‚
„Unbedingt. Sie schläft oben in ihrem Bett. Ich hätte sie ge- weckt, aber Sie haben ja gehört, was meine Haushälterin gesagt hat. Sie braucht ihren Schlaf. Es ist zwar noch etwas verfrüht, darüber zu reden, aber wir sind gerade dabei, Sie zum Onkel zu machen.‚
George ließ sich in einen Sessel sinken. „Rachel ist Ihre Frau?‚
Jerome nickte.
„Wenn Sie noch mehr Überraschungen für mich auf Lager ha- ben, dann warten Sie damit um Gottes willen bis morgen. Ich glaube nicht, daß ich heute noch etwas verkraften kann.‚
Als Jerome an diesem Abend sein Schlafzimmer betrat, ging er zuerst zur Verbindungstür. Vorsichtig drehte er den Knauf, doch die Tür war verschlossen.
Sein Herz sank, und die Einsicht, daß er eine solche Behand- lung verdiente, machte seinen Schmerz nur noch größer.
Er zog den Morgenrock an, ging hinaus auf den Flur und ver- suchte, ob Rachels Zimmertür sich öffnen ließ. Doch auch sie war verschlossen. Er preßte das Ohr an die Tür, klopfte behutsam an und rief leise ihren Namen. Von drinnen kam kein Geräusch.
Er dachte an die mahnenden Worte der Haushälterin und an
Rachels erschöpften Zustand und beschloß, sie nicht zu wecken. Wenn er ihr all das sagte, was er auf dem Herzen hatte, würde sie heute nacht keinen Schlaf mehr bekommen. Nach allem, was er ihr angetan hatte, war es wohl das mindeste, wenn er ihr jetzt ein wenig Schlaf gönnte.
Er ging zurück in sein Zimmer, kroch in sein einsames Bett und tröstete sich mit dem Gedanken, daß es ja nur noch für eine Nacht war.
In der beruhigenden Gewißheit, daß seine Frau ihm doch treu war und sicher und geborgen im Nebenzimmer schlief, fiel er zum erstenmal seit Tagen wieder in einen erholsamen Schlaf.
31. KAPITEL
Es war fast Mittag, als Jerome am nächsten Tag erwachte. Er sprang aus dem Bett und ging sofort zur Verbindungstür.
Sie war immer noch verschlossen. Er schluckte seine Enttäu- schung hinunter, klopfte dann und rief laut nach Rachel, doch es kam keine Antwort. Er horchte, aber drinnen rührte sich nichts.
Wahrscheinlich war sie schon seit Stunden auf. Wie schade, daß er nun ihr glückliches Wiedersehen mit George verpaßt hatte. Er läutete nach dem Kammerdiener.
Peters kam herein und sagte: „Vor ein paar Minuten ist ein Mr. Griffin aus London gekommen. Er sagt, es sei dringend, und er müsse Sie sofort sprechen, Euer Gnaden.‚
Es mußte schon wirklich äußerst dringend sein, wenn Griffin sich selbst auf den langen Weg von London nach Royal Elms ge- macht hatte. Jerome konnte sich nur einen Grund für diese Eile denken: Man hatte Stephen Wingate gefunden, und er war am Leben. Wenn er Rachel diese Nachricht bringen könnte . . . Wie selig wäre
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