Marlene Suson 1
allem Rachel selbst. Sie hatte die Arbeit so gern getan, und das Vertrauen ihres Bruders hatte ihr sehr viel bedeutet. Nur wenige Männer hätten einer Frau so viel Autorität zugebilligt. Abwesend sah sie zu, wie die Finger des Herzogs mit Maxis seidigem Fell spielten. „Papa sagte oft, er wünschte, ich wäre sein erstgeborener Sohn, denn ich würde das Gut besser leiten als meine Brüder.‚
„Wie lange haben Sie es getan?‚
„Drei Jahre. Papa war ein Jahr krank. Nach seinem Tode machte ich weiter, bis Stephen verschwand.‚
„Ist das der Grund, weshalb Sie nicht Ihr Debüt in London ge- ben konnten? Weil Sie hier unabkömmlich waren?‚ fragte Jerome stirnrunzelnd. Das war nicht fair. Rachel hätte ihre Saison in Lon- don haben müssen, um in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Das stand ihr zu. Ihr verflixter Bruder Leichtfuß hätte darauf be- stehen müssen, anstatt alle Lasten auf ihre Schultern abzuwälzen.
„Ja, aber es machte mir nichts aus‚, versicherte Rachel ver- gnügt. „Ich glaube nicht, daß London mir gefallen hätte.‚
„Wieso nicht?‚ Jerome war zwar ganz ihrer Meinung, aber noch nie war ihm eine schöne Frau begegnet, die nicht nach dem auf- regenden gesellschaftlichen Leben in London lechzte.
„Wie ich gehört habe, verbringt man dort seine ganze Zeit mit Besuchen und Bällen.‚
„Aber das ist es doch, was die Frauen so lieben.‚
„Ja? Für mich hört es sich schrecklich langweilig und un- nütz an.‚
„Das ist es auch.‚ Es verblüffte Jerome, daß ihre Meinungen sich in diesem Punkt so deckten. „Deshalb verbringe ich so wenig Zeit in London wie möglich.‚
Dies wiederum verblüffte Rachel. Ihre Augen leuchteten auf, und sie schenkte ihm ihr bezauberndes Grübchenlächeln.
„Ich kann gar nicht verstehen, weshalb mein Bruder und seine Freunde so verrückt nach London waren.‚
„Ich auch nicht‚, stimmte Jerome zu. „Weshalb haben Sie die Leitung von Wingate Hall abgegeben?‚
Rachels Lächeln erstarb. „Stephen hat ein Schriftstück hin- terlassen. Darin hat er verfügt, daß, sollte ihm etwas zustoßen, Onkel Alfred zu meinem Vormund bestellt wird. Und daß er das Gut leiten soll, bis Stephens Erbe, mein anderer Bruder, nach England zurückkehrt.‚
Jerome runzelte die Stirn. „Dann müßte Stephen ja mit Ihrer Leitung nicht zufrieden gewesen sein.‚
„Aber das war er doch!‚ rief Rachel bekümmert.
„Und warum hat er dann so verfügt?‚
„Stephen hat sich nicht ein einziges Mal über mich beklagt. Im Gegenteil, er hat mich immer gelobt und versichert, daß ich meine Sache gut mache.‚
Ratlos schüttelte Jerome den Kopf. Er erinnerte sich daran, was Ferris über Rachel gesagt hatte. Weshalb sollte ihr Bruder dann eine solche Entscheidung getroffen haben? „Welchen Grund hat Stephen angeführt, daß Alfred die Leitung übernehmen sollte?‚
Rachels Kinn zitterte. „Keinen! Das hat mich ja am meisten getroffen. Mir gegenüber hat er nie erwähnt, daß er so etwas vorhatte. Natürlich hat er nie damit gerechnet, daß ihm etwas zustoßen könnte, aber er hätte doch zumindest eine Andeutung machen können.‚
Das paßt zu diesem leichtfertigen jungen Spund, dachte Je- rome. Trotzdem war es eine Ungeheuerlichkeit, die Mühen seiner Schwester auf diese herzlose Art zu belohnen.
Jerome hatte plötzlich das Bedürfnis, sie zu trösten. „Vielleicht hat Stephen es getan, um Sie zu entlasten, damit Sie heiraten und eine eigene Familie gründen können.‚
„Aber ausgerechnet Onkel Alfred mit der Leitung zu betrauen!‚ Sie wirkte ganz verzweifelt. „Stephen hielt Onkel Alfred immer für ziemlich vertrottelt.‚
Das tat Jerome auch. „Und? Hat sich nun herausgestellt, daß Stephen recht hatte?‚
„Es ist ja Tante Sophia, die jetzt das Sagen hat. Mein Onkel wagt nicht, ihr zu widersprechen. Es ist schrecklich, was sie an- stellt. Die Ernte war in den vergangenen zwei Jahren schlecht, und viele Pächter hungern. Trotzdem kümmert sie sich um gar nichts, außer noch mehr Pacht aus den Leuten herauszupressen.‚ Jerome hatte Maxi auf seinem Schoß ganz vergessen, und der Hund bellte auf, um sich in Erinnerung zu bringen. Gedanken- verloren streichelte er ihn weiter.
„Ich habe den Leuten Essen gebracht‚, gestand Rachel. „Aber Sophia hat es unterbunden. Sie hat sogar verboten, die Reste aus der Küche von Wingate Hall wegzugeben, obwohl sie doch in den Müll kommen. Es ist einfach gewissenlos von ihr.‚ Rachels Au- gen blitzten
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