Marlene Suson 1
Arlington eine Seite entdeckt haben, die mir entgangen ist‚, sagte Jerome trocken.
„Sie behaupten, der Teufel selbst würde besser sein als Sophia Wingate. Außerdem hoffen sie, daß Arlington wieder das glei- che tut wie vorher: Daß er Lady Rachel die Leitung des Gutes überläßt.‚
„Sie hat es geleitet?‚ fragte Jerome ungläubig.
„Ja, und mit bemerkenswertem Erfolg, wie man hört.‚
„Das kann ich nicht glauben!‚ Eine erwachsene Frau wäre viel- leicht dazu fähig, aber Rachel war viel zu jung, um einer solchen Verantwortung gerecht zu werden.
Oder etwa nicht? Er erinnerte sich daran, wie ihr Gesicht ge- glüht hatte, als sie von ihrer Heiltätigkeit sprach.
„Man kann kaum sagen, wer hier in der Gegend beliebter ist – Lady Rachel oder Gentleman Jack‚, fuhr Ferris fort. „Die Leute machen sich große Sorgen um Lady Rachel. Sie fürchten, daß ihr jemand an den Kragen will.‚
„Was?‚ stieß Jerome erschrocken hervor.
„Vor zwei Monaten hat eine Kugel sie um Haaresbreite ver- fehlt, als sie durch den Wald ging. Angeblich ein Wilderer, der sie
verwechselt hat. Aber die Leute haben ihre Zweifel, zumal sie an dem Tag ein hellgelbes Kleid trug. Nicht sehr wahrscheinlich, daß man sie mit einem Reh oder dergleichen verwechseln konnte.‚ Jerome spürte, wie sein Magen sich zusammenzog. „Hat es seit- dem noch weitere Zwischenfälle gegeben?‚
„Nein. Lady Rachel selbst hat die Sache als Unfall abgehakt, aber die Leute haben noch immer Angst um sie.‚
„Gibt es jemanden, den sie verdächtigen?‚
„Einen ihrer abgewiesenen Bewerber.‚
„Davon gibt es zweifellos jede Menge‚, brummte Jerome, son- derbar irritiert von der Vorstellung.
„Dutzende. Aber am verdächtigsten ist wohl Sir Waldo Flet- cher. Sie konnte ihn noch nie leiden, und als er versuchte, sich ihr aufzudrängen, hat sie ihm sehr eindeutig den Marsch geblasen. Das haben mehrere Leute mit angehört. Diese Blamage hat er ihr nie verziehen, obwohl er sie wirklich verdient hatte.‚
Jerome erinnerte sich an die haßerfüllten Blicke, die Fletcher Rachel am Vorabend zugeworfen hatte. Er hatte sich gefragt, was sie wohl getan haben mochte, um sich ihn dermaßen zum Feind zu machen.
„Kurz nach diesem Auftritt wurde der Schuß auf sie abgefeu- ert‚, sagte Ferris. „Fletcher war gerade im selben Waldstück auf der Jagd, stritt aber ab, auch nur in ihrer Nähe gewesen zu sein und irgend etwas gehört oder gesehen zu haben.‚
Jerome runzelte die Stirn. Er hatte Fletcher gestern abend als Angeber und Hasenfuß eingeschätzt – genau der Typ, der her- umschlich und heimlich auf Rache sann. Aber auf eine wehrlose Frau zu schießen, was für eine Vorstellung! „Man sagt, Fletcher sei ein miserabler Schütze.‚
„Vielleicht der Grund, weshalb er Lady Rachel verfehlt hat.‚
„Ich hoffe zu Gott, daß ihm das auch bei Morgan passiert ist‚, sagte Jerome inbrünstig. „Fletcher behauptet, er hätte Gentleman Jack gestern abend niedergeschossen.‚
Ferris erblaßte. „Kann das der Grund sein, weshalb er nicht ge- kommen ist?‚ fragte er besorgt und faßte damit Jeromes geheime Angst in Worte. „Es paßt eigentlich gar nicht zu ihm, sich so zu verspäten.‚
Ferris hatte recht. Morgan hatte zwar viele Fehler, doch er war immer pünktlich. Was, wenn er irgendwo lag, verletzt und hilflos?
Falls er überhaupt noch am Leben war.
Ein Zittern überlief Jerome. Sein Bruder konnte nicht tot sein.
Sie standen einander so nahe, daß er sicher gespürt hätte, wenn ihm etwas zugestoßen wäre.
Dennoch schnürte die Angst Jerome fast das Herz ab. „Ferris, hast du vielleicht irgendwie erfahren, wo Gentleman Jacks Ver- steck ist?‚
„Nicht den geringsten Hinweis. Aber da ich weiß, wie sehr er seine Bequemlichkeit liebt, dürfte es wohl kaum eine verlassene Pächterhütte sein.‚
Wieder schaute Jerome auf die Uhr. „Komm, laß uns gehen. Morgan kommt offenbar nicht.‚
Als Jerome sich in den Sattel schwang, um nach Wingate Hall zurückzureiten, kam ihm zum Bewußtsein, daß Morgan zum er- stenmal sein Wort gebrochen hatte.
Wo in aller Welt war sein Bruder?
7. KAPITEL
Als Jerome Wingate Hall erreichte, war der erste Mensch, den er zu Gesicht bekam, Eleanor Paxton. Er spürte eine leise Enttäu- schung, weil Rachel nicht bei ihr war.
Als hätte Eleanors scharfer Blick seine Gedanken erraten, sagte sie mit Verschwörermiene: „Lady Rachel ist im Gartenlabyrinth.‚ Er wollte Eleanor erklären, daß es ihm
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