Marlene Suson 1
Welt weiß, daß der Duke of Westleigh Einladungen aufs Land norma- lerweise ablehnt, weil die meisten Landsitze seinem Royal Elms nicht das Wasser reichen können.‚
„Stephen mag den Herzog nicht‚, sagte Rachel. „Er sagt, West- leigh sei entsetzlich hochmütig und habe ihn mit eisiger Arroganz behandelt.‚
„Das steht einem Herzog ja auch zu‚, gab Fanny zurück. Of- fensichtlich hielt sie nicht viel von der Meinung ihres verschwun- denen Verlobten.
„Der Herzog scheint auch kein großes Vertrauen in unsere Ställe zu haben‚, fuhr Rachel fort. „Er schrieb, daß er zwei seiner Reitpferde samt Reitknecht mitbringen würde.‚ Rachel schmollte noch immer ob dieser subtilen – und unangebrachten – Mißach- tung des Pferdebestands auf Wingate Hall.
„Alle Wetter! Dann bringt er sicher Lightning mit!‚ rief der junge Toby, der ein ausgemachter Pferdenarr war. „Wie man sagt, zieht er ihn jedem anderen Pferd vor und nimmt ihn häufig auf Reisen mit. Es heißt, Lightning sei der edelste Hengst im ganzen Königreich.‚
Plötzlich begann Maxi wie wild zu bellen und zu strampeln. Rachel setzte ihn auf den Boden und schaute über den Fluß. Aus dem Birkenwald waren zwei der schönsten Pferde getreten, die sie je gesehen hatte.
„Was für wundervolle Tiere!‚ stieß Toby ehrfürchtig hervor. „Jede Wette, daß der große Hengst links Lightning ist. Das sind wahrscheinlich Westleighs Stallknechte mit seinen Pferden.‚
Mit anderen Worten, dieser aufgeblasene Adelssproß schickt uns sogar zwei Stallknechte auf den Hals, dachte Rachel ver- drossen.
Als Jerome und Ferris den Wald hinter sich ließen und ins helle Sonnenlicht hinaustraten, kniff der Herzog geblendet die Augen zu. Sein Lederrock wurde ihm zu warm. Er zog ihn aus und legte ihn quer über Lightnings Rücken.
Als seine Augen sich an die gleißende Sonne gewöhnt hatten, sah er direkt vor sich eine kurze, ziemlich morsche Holzbrücke. Jerome zügelte Lightning zum Schritt, und Ferris folgte seinem Beispiel. Die Brücke war für die Kutsche kaum breit genug, und Jerome hoffte, daß sie unter dem Gewicht nicht zusammenbrach.
Dann sah er den Fluß, dessen angeschwollenes Wasser sich mit entfesselter Kraft an den Uferböschungen brach. Er hörte, wie Ferris neben ihm den Atem einzog.
Noch bevor Jerome den Kopf wandte und das kalkweiße Ge- sicht des Freundes sah, wußte er, was los war. Ferris war mit sechs Jahren in einen Fluß gefallen und um ein Haar ertrunken. Seit jenem Tag versetzte den sonst so mutigen, tollkühnen Ferris der Anblick von Wasser in Panik. Jerome hatte ihm mehrfach angeboten, ihm das Schwimmen beizubringen, doch Ferris hatte jedesmal rundweg abgelehnt. Er war nicht zu bewegen, freiwillig auch nur in die Nähe von Wasser zu gehen.
„Komm schon, die Brücke ist kurz‚, sagte Jerome aufmunternd. „In einer halben Minute sind wir drüben.‚
Als die Pferde mit klappernden Hufen die baufällige Holzkon- struktion betraten, mahnte Jerome: „Schau zur anderen Seite hinüber und nicht nach unten. Dann ist es einfacher für dich.‚
Ferris zwang sich, geradeaus zu schauen. Plötzlich riß er die Augen auf, sein Unterkiefer fiel herab, und er ließ die Zügel schleifen. „Allmächtiger!‚ stieß er überwältigt hervor. „Haben Sie je im Leben so etwas Schönes gesehen?‚ Das wilde Wasser unter sich hatte er offenbar völlig vergessen.
Jerome hatte Ferris nicht aus den Augen gelassen. Doch jetzt schaute er auf, um zu sehen, was so aufregend war, daß sein Reit- knecht die Angst vor dem Wasser vergessen hatte.
Schon auf den ersten Blick wußte Jerome, welche der beiden elegant gekleideten jungen Damen am anderen Ufer diese Wir- kung auf Ferris gehabt hatte. Die eine, eine Blondine mit Puppen- gesicht, war gewiß bildhübsch, doch die andere war die schönste Frau, die Jerome je gesehen hatte.
Ihm verschlug es die Sprache, während er dieses atemberau- bende Geschöpf anstarrte. Selbst die schöne Helena hätte diese junge Frau um das ebenmäßige Gesicht mit den großen, aus- drucksvollen Augen, der perfekten, schmalen Nase und dem vollen kirschroten Mund beneidet. Ihr Haar, so schwarz und glänzend wie das Federkleid eines Kolkraben, stand in lebhaftem Kontrast zu ihrem makellosen alabasterfarbenen Teint.
Ihr gertenschlanker Körper steckte in einem violetten Reitkleid, dessen mit Silberborten besetztes Jäckchen die vollen Brüste ge- fällig modellierte und die zierliche Taille so eng umspannte, daß Jerome sie
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