Mars 02 - Die Götter des Mars
Die roten Menschen verfügen über diese wundervolle Fähigkeit schon seit Jahrhunderten. Und sie vermögen noch etwas anderes zu tun. Sie können ihre Gedanken so verschließen, daß sie niemandem zugänglich sind. Ich habe das Lesen von Gedanken vor Jahren gelernt. Das andere hatte ich nicht erst zu lernen, da es auf ganz Barsoom niemanden gibt, der in die innersten Kammern meines Gehirns vordringen kann. Deine Göttin kann meine Gedanken nicht lesen und auch deine nicht, wenn sie dich nicht sieht. Sie kann es nur dann, wenn du ihr gegenüberstehst. Hätte sie meine lesen können, dann hätte ihr Stolz einen ziemlich ernsthaften Schaden genommen, fürchte ich, als ich ihrem Befehl Folge leistete und mich umwandte, um das heilige ›Traumbild ihrer blendenden Schönheit‹ in Augenschein zu nehmen.«
»Was willst du damit sagen?« flüsterte er mit erschreckter Stimme, so leise, daß ich ihn kaum hören konnte.
»Ich meine, daß ich sie für die abstoßendste und gemeinhin entsetzlichste Kreatur halte, die mir jemals zu Gesicht gekommen ist.«
Einen Augenblick lang sah er mich entsetzt an und sprang dann mit dem Schrei ›Gotteslästerer!‹ auf mich zu.
Ich wollte ihn nicht wieder schlagen, ferner war es unnötig, denn er war unbewaffnet und deswegen nicht weiter gefährlich für mich.
Als er kam, packte ich mit meiner Linken sein linkes Handgelenk, fuhr mit dem rechten Arm über seine linke Schulter, klemmte ihm den Ellenbogen unters Kinn und drückte ihn rückwärts über meinen Schenkel.
Dort hing er für einen Augenblick hilflos und starrte mich in ohnmächtiger Wut an.
»Xodar«, sagte ich. »Laß uns Freunde sein. Wir müssen vielleicht hier in diesem winzigen Raum ein Jahr zusammen verbringen. Es tut mir leid, dich gekränkt zu haben, doch habe ich es mir nicht träumen lassen, daß jemand, mit dem Issus auf eine so grausame und ungerechte Weise verfahren ist, noch an ihre Göttlichkeit zu glauben vermag. Ich werde noch einige wenige Worte sagen, Xodar, ohne deine Gefühle weiter verletzen zu wollen, sondern damit du auch darüber nachdenkst, daß wir, solange wir leben, unser Schicksal in größerem Maße bestimmen als jeder Gott. Wie du siehst, hat Issus mich nicht tot zu Boden sinken lassen. Auch wird sie ihren treuen Xodar nicht aus den Klauen des Ungläubigen befreien, der ihre Schönheit geschmäht hat. Nein, Xodar, deine Issus ist eine sterbliche alte Frau. Bist du ihr einmal entkommen, kann sie dir nicht schaden. Mit deinem Wissen über dieses seltsame Land und meinen Kenntnissen von der Außenwelt sollten zwei solche Kämpfer, wie wir beide es sind, in der Lage sein, sich den Weg in die Freiheit zu bahnen. Auch wenn wir bei dem Versuch stürben, hätte man uns nicht in besserer Erinnerung, als verharrten wir in unterwürfiger Furcht, um von einer grausamen und ungerechten Tyrannin dahingeschlachtet zu werden - nenne sie Göttin oder Sterbliche, wie du willst.«
Als ich geendet hatte, stellte ich Xodar auf die Füße und ließ ihn los. Er versuchte kein weiteres Mal, mich anzugreifen, und sagte kein Wort. Statt dessen ging er zur Bank, sank darnieder und blieb stundenlang, seinen Gedanken nachhängend, darauf sitzen.
Nach langer Zeit drang ein leises Geräusch von einer der Türen der Nebenräume zu mir. Ich blickte auf und sah den roten Marsjungen, der uns forschend anschaute.
»Kaor«, rief ich den Gruß der roten Marsmenschen.
»Kaor«, entgegnete er. »Was macht ihr hier?«
»Auf den Tod warten, nehme ich an«, erwiderte ich mit einem gequälten Lächeln.
Auch er zeigte ein mutiges und gewinnendes Lächeln. »Ich auch«, sagte er. »Meiner kommt bald. Ich habe die blendende Schönheit von Issus schon vor fast einem Jahr erblickt. Wenn ich daran denke, erstaunt es mich immer wieder außerordentlich, daß ich nicht beim ersten Blick auf dieses entsetzliche Gesicht tot umgefallen bin. Und der Leib erst! Bei meinem ersten Ahnen, nie zuvor habe ich auf der ganzen Welt eine solche lächerliche Gestalt gesehen. Daß jemand so etwas mit ›Göttin des Ewigen Lebens‹, ›Göttin des Todes‹, ›Mutter des Nächsten Mondes‹ und mit fünfzig anderen gleichartig unmöglichen Titeln bezeichnen kann, geht über meinen Horizont.«
»Wie bist du hierher gekommen?« fragte ich.
»Das ist sehr einfach. Ich befand mich mit einem einsitzigen Aufklärungsflugzeug weit im Süden, als mir die brilliante Idee kam, das Verlorene Meer Korus zu suchen, das sich dem Hörensagen nach in der Nähe des
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