Mars Live
sie in jedem Frühling mit ihrem Vater in das Waldgebiet in der Nähe von Krasnoje Selo gefahren, um die Datscha zu lüften, und der Geruch war ähnlich gewesen: der angenehme Gestank von feuchtem Holz und langen Wintern. Im Hobbyraum waren die Nautilus-Geräte mit sibirischem Kudsu bedeckt, der während der Verlassenheit des Schiffes bestens gediehen war. Die Gänge waren von Flechten überwuchert, und die Wände waren glitschig von Moder. Während sie sich durch den Zylinder zur Rückenachse des Schiffes bewegte, öffnete sie jede Tür langsam, mit Bedacht, als ob sie erwartete, dahinter Mäuse oder Schlangen vorzufinden.
Der Hygieneraum.
Der Ruheraum.
Natascha Kirow kannte sie alle. Im Gegensatz zu den Gebrauchskähnen der NASA war die Mary Poppins für weite Strecken konstruiert: die NASA stellte U-Boote her, dies war eine Normandie. Sie war so gebaut worden, daß sie eine sechundsechzigköpfige Mannschaft auf einer dreijährigen Reise ohne Winterschlaf beherbergen konnte; und da Masse beim Nuklearantrieb keine Rolle spielte, war das Schiff mit holzgetäfelten Aufenthaltsräumen, Teppichböden, Pflanzen, Gemälden und echten Büchern, Fenstern und Spiegeln ausgestattet. Fern von der Erde, auf der anderen Seite der Sonne war es wichtig, von irdischen Dingen umgeben zu sein, Gegenständen mit Fingerabdrücken und Gerüchen. Der Kudsu diente dem Wohl der Seele und des Geistes, ebenso wie die Holztäfelung in den Gängen, die echten Bücher in der Bibliothek, die astrachanischen Teppiche im Aufenthaltsraum.
In der Bibliothek öffnete sich ein Fenster mit Kristall-Linse zu den Sternen hin. Sie sahen von hier aus viel weiter entfernt aus als von der Erdoberfläche. Mikrofilme und Kassetten füllten die Wandschlitze zwischen den Holzregalen, auf denen sich echte gebundene Bücher aneinanderreihten. Natascha Kirow zog einen Handschuh aus und nahm eine der Kassetten aus dem Regal. DIE FÜNFZIG GRÖSSTEN ROCK ’N’ ROLL-HITS DES UNIVERSUMS UND aller Zeiten stand auf russisch auf dem Etikett. Während ihrer Ausbildungszeit auf der Mary Poppins hatte Natascha ihre Raubkopien von Tonbändern heraufgebracht. Als sie wegging, hatte sie sie nicht mitgenommen. Amerikanische Musik der fünfziger Jahre und ihre eigene Moskauer Jugend beinahe ein halbes Jahrhundert später schienen ihr nur dem Himmel angemessen zu sein. Sie wärmte das Band unter ihrem Hemd an und schob es in das Abspielgerät, doch nichts tat sich; immer noch kein Saft. Sie ließ es, wo es war.
Da sie es nicht eilig hatte, zur Brücke zu gelangen, durchstreifte sie einen Raum nach dem anderen, schnitt den Kudsu zurück und wischte den schlimmsten Schimmel von den Wänden. Zum Glück hatte er sich nur an den Wänden gebildet, die direktes Erdlicht abbekamen, und er sah fast aus, als wäre er die blaßgrüne Umkehrung von Schatten.
Das Schiff war kalt, und es stank, und sie liebet es.
»Gerade hat mich Jeffries von der Station angerufen«, sagte Bass, der sie wiederum vom Pick-up aus anrief. »Er hat Markson am Apparat, und der sagt, daß wir nach dem Wunsch des Studios morgen zum Mars aufbrechen sollen.«
»Gut«, sagte Natascha Kirow. »Also keine Pressekonferenz.«
»Er möchte die Pressekonferenz hier abhalten, auf der Mary Poppins.«
»Was? Das ist unmöglich.«
»Können wir eine Dreierverbindung schalten?« sagte Jeffries. »Markson, Sie sind mit uns beiden verbunden…«
»Kirow, die Presseleute sind bereits unterwegs!« sagte Markson. »Ich habe ein Sondershuttle für sie gemietet.«
»Das ist völlig absurd«, sagte Natascha Kirow. »Das Schiff muß gereinigt und mit neuen Vorräten versehen werden; wir müssen Delta V berechnen, das Triebwerk muß überprüft und aufgetankt werden, und was ist mit den Filmstars?«
»Sie kommen gegen Mittag mit den Presseleuten an. Überlassen Sie das alles mir. Das Problem ist, wenn wir nicht schleunigst aufbrechen, brechen wir vielleicht überhaupt nicht auf. Seit Disney-Gerber die Nationalparks gekauft hat, versuchen sie, die Mary Poppins als Nutzungszubehör der Nixon-Station für sich zu beanspruchen, und sie berufen sich dabei auf ein Einfriedungsgesetz des ehemaligen Amtes für Liegenschaften.«
»Ich dachte, Pellucidar hätte bereits Ansprüche auf das Schiff angemeldet«, warf Bass ein.
»In diesem Fall trifft das Seenot-Rettungs-Gesetz zu, abhängig davon, wo sich das Schiff zu irgendeinem fraglichen Zeitpunkt befindet. Inzwischen haben die Russen eine UN-Sondersitzung für heute abend, acht
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