Mars Trilogie 1 - Roter Mars
>Sonnenaufgang<. Maya wachte dabei auf, wie sie es ihr ganzes Leben lang getan hatte. Nach dem Besuch des Baderaums begab sie sich in die Küche von Torus D, erwärmte eine Mahlzeit und ging damit in den großen Speisesaal. Dort setzte sie sich an einen Tisch zwischen Citrusbäumen in Töpfen. Hummeln, Finken, Meisen, Sperlinge und Papageien pickten zu ihren Füßen und huschten in die Höhe, vorbei an den kletternden Reben, die von der langen gewölbten Decke des Saales herabhingen, welche in einem Graublau bemalt war, das sie an den Winterhimmel von St. Petersburg erinnerte. Sie pflegte langsam zu essen, die Vögel zu beobachten, sich in ihrem Sessel zu entspannen und auf die Gespräche ringsum zu lauschen. Ein gemächliches Frühstück! Nach einem Leben in der Tretmühle wirkte es zunächst eher unbequem, sogar alarmierend, wie ein gestohlener Luxus. Als ob jeden Morgen Sonntag wäre, wie Nadia sagte. Aber Mayas Sonntagmorgen waren nie besonders lässig gewesen. In ihrer Kindheit war das die Zeit gewesen, die Einzimmerwohnung zu putzen, die sie mit ihrer Mutter geteilt hatte. Diese war Ärztin gewesen und hatte wie die meisten Frauen ihrer Generation angestrengt arbeiten müssen, um zurechtzukommen, Nahrung zu beschaffen, ein Kind aufzuziehen, sich eine eigene Wohnung zu leisten und eine Laufbahn durchzuhalten. Schließlich war das zuviel für sie gewesen, und sie hatte sich mit den vielen Frauen zusammengetan, die wütend ein besseres Leben forderten, als sie in den Sowjetjahren gehabt hatten, die ihnen halb bezahlte Jobs gegeben und die ganze Hausarbeit überlassen hatten. Kein Anstehen mehr, keine stumme Duldung. Sie mußten vorankommen, solange die Instabilität dauerte. »Auf dem Tisch steht alles«, pflegte Mayas Mutter zu sagen, wenn sie ihre mageren Mahlzeiten kochte, »Alles außer Essen!«
Und vielleicht hatten sie Fortschritte erzielt. In der Sowjetära hatten Frauen gelernt, einander zu helfen. Eine fast selbständige Welt war entstanden, von Müttern, Schwestern, Töchtern, Babuschkas, Freundinnen, Kolleginnen und sogar Fremden. Im Commonwealth hatte diese Welt ihre Gewinne konsolidiert und war noch weiter in die Machtstruktur vorgedrungen, in die engen männlichen Oligarchien russischer Regierung.
Ein besonders betroffenes Gebiet war das Raumprogramm gewesen. Mayas Mutter, die etwas mit Weltraummedizin zu tun hatte, schwor immer, daß die Kosmonautik einen Zustrom an Frauen brauchen würde. Sei es auch nur, um weibliche Daten für medizinische Versuche zu liefern. »Sie können uns nicht für immer Valentina Tereschkowa vorhalten!« pflegte ihre Mutter zu sagen. Und offenbar hatte sie recht; denn nach dem Studium der Flugzeugwissenschaften an der Moskauer Universität war Maya in ein Programm in Baikonur aufgenommen worden, hatte sich dort gut gemacht und einen Auftrag für die Station Novy Mir erhalten. Während sie dort oben war, hatte sie die Innenräume im Sinne verbesserter ergonomischer Leistungsfähigkeit umkonstruiert. Später verbrachte sie ein Jahr als Kommandantin der Station, während dessen etliche Notreparaturen ihren Ruf gemehrt hatten.
Administrative Arbeiten in Baikonur und Moskau waren gefolgt; und im Laufe der Zeit hatte sie es geschafft, in das kleine Politbüro von Glavkosmos vorzudringen und die Männer in subtilster Weise gegeneinander auszuspielen. Sie heiratete einen davon, ließ sich scheiden und stieg dann im Glavkosmos zur freien Agentin auf. Sie wurde ein Glied des innersten Kreises, des doppelten Triumvirats.
Und nun war sie also hier und genoß ein behagliches Frühstück. »So zivilisiert«, würde Nadia spotten. Sie war Mayas beste Freundin auf der Ares, eine kleine Frau mit kurzgeschnittenem, graumeliertem Haar. So schlicht wie möglich. Maya, die wußte, daß sie gut aussah, was ihr öfters geholfen hatte, liebte Nadias Schlichtheit, die ihre Kompetenz irgendwie betonte. Nadia war Ingenieurin und sehr praktisch, eine Expertin für Bauten in kaltem Klima. Sie hatten sich vor zwanzig Jahren in Baikonur kennengelernt und auf der Novy Mir einige Monate zusammengelebt. Im Lauf der Jahre waren sie wie Schwestern geworden. Obwohl sie sich wenig ähnelten und gar nicht so gut miteinander auskamen, waren sie sehr vertraut.
Jetzt schaute Nadia sich um und sagte: »Die russischen und amerikanischen Wohneinheiten in verschiedenen Torussen unterzubringen, war eine fürchterliche Idee. Wir arbeiten tagsüber mit ihnen zusammen, verbringen aber den größten Teil unserer Zeit
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