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Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars

Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars

Titel: Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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Unterschied. Das Brummen und Klagen des Windes sprach nicht in den Tönen des Dozenten vom MIT zu ihr. Sie erlebte keine schockierenden Sinneseindrücke, wenn sie versuchte zu atmen. So war es nicht. Ihr Denken war vielmehr beschleunigt, gebrochen und unvorhersehbar wie der Vogelschwarm über dem Eis, der in einem scharfen Westwind im Zickzack über den Himmel flog. Ah, das Gefühl dieses gleichen Windes, der gegen ihren Körper drückte, und die neue dichte Luft wie die Tatze eines großen Tieres...
    Die Vögel kämpften darin mit sorgloser Geschicklichkeit. Sie stand eine Weile da und sah zu. Es waren Raubmöwen, die über dunklen Streifen offenen Wassers jagten. Diese eisfreien Stellen waren an der Oberfläche nur die Anzeichen für immense Taschen flüssigen Wassers unter dem Eis. Sie hatte gehört, daß ein Wasserkanal unter dem Eis jetzt den Globus umspannte. Er wand sich nach Osten über das alte Vastitas und riß häufig freie Stellen in die Oberfläche, die dann eine Stunde oder eine Woche lang offen blieben. Selbst bei so kalter Luft wurden die Unterwassertemperaturen durch die überfluteten Moholes von Vastitas erwärmt und durch die aufsteigende Hitze aus den Tausenden thermonuklearer Explosionen, welche die Metanats um die Jahrhundertwende ausgelöst hatten. Diese Bomben waren tief genug im Megaregolith angebracht worden, um, wie man meinte, ihre radioaktive Ausschüttung abzufangen, aber nicht ihre Wärme, die als thermischer Puls durch das Gestein drang, in einem Puls, der viele Jahre anhalten würde. Nein. Michel konnte reden, daß es Marswasser war, aber sonst war an diesem neuen Meer kaum noch etwas Natürliches.
    Ann erkletterte einen Grat, um weitere Sicht zu haben. Da lag es: Eis, meistens flach, bisweilen zertrümmert. Alles so ruhig wie ein Schmetterling auf einem Zweig, als ob sich das Weiße plötzlich erheben und davonfliegen könnte. Die Kreise der Vögel und das Treiben der Wolken zeigten, wie scharf der Wind blies und alles in der Luft nach Osten jagte. Aber das Eis blieb still. Die Stimme des Windes war tief und kräftig. Er fegte über eine Milliarde kalter Kanten. Ein Streifen grauen Wassers war durch Windstöße zerhackt. Die Stärke jeder Bö wurde genau von den kahlen Katzenkrallen registriert. Jeder schärfere Windstoß zerflederte die größeren Wellen mit außerordentlicher Empfindlichkeit. Wasser. Und unter dieser gepeitschten Oberfläche Plankton, Krill, Fische, Kalmare. Sie hatte gehört, daß man in Brutanstalten alle Kreaturen der äußerst kurzen Nahrungskette der Antarktis produzierte und dann ins Meer freisetzte. Das Wasser wimmelte.
    Die Möwen kurvten über ihrem Kopf. Eine Wolke von ihnen wirbelte auf etwas längs der Küste herunter, hinter einigen Felsen. Ann kletterte dorthin. Plötzlich erblickte sie das Ziel der Vögel, das in einer Spalte am Rande des Eises lag: Die Reste einer Robbe. Robben! Der halb aufgefressene Kadaver lag auf Tundragras im Windschatten einiger Sanddünen, abgeschirmt durch einen weiteren Felsgrat, der hinunter ins Eis verlief. Das weiße Skelett ragte aus dunkelrotem Fleisch hervor, umgeben von weißem Speck und dunklem Fell. Alles zum Himmel hinaufgerissen. Die Augen ausgehackt.
    Sie kletterte an dem Kadaver vorbei auf einen anderen kleinen Grat. Dieser bildete eine Art von Kap ins Eis hinein. Dahinter war eine Bucht. Eine runde Bucht, ein Krater, mit Eis gefüllt. Der hatte zufällig auf Meeresniveau gelegen und eine Scharte in seinem der See zugewandten Rand gehabt, so daß Wasser und Eis eingedrungen waren und ihn gefüllt hatten. Jetzt eine runde Bucht, perfekt für einen Hafen. Eines Tages würde es ein Hafen sein. Ungefähr drei Kilometer Durchmesser.
    Ann setzte sich auf einen Stein am Kap und blickte auf die neue Bucht hinaus. Ihr Atem strömte unfreiwillig schwer ein und aus, und ihr Brustkorb bewegte sich heftig wie bei schwerer körperlicher Arbeit. Seufzer, ja. Sie zog ihre Gesichtsmaske zur Seite, putzte sich mit dem Finger die Nase, wischte sich die Augen und weinte dabei wütend vor sich hin. Dies war ihr Körper. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie auf einer einsamen Wanderung vor Jahren auf die Überschwemmung von Vastitas gestoßen war. Damals hatte sie nicht geschrien, aber Michel hatte gesagt, daß das nur der Schock wäre, die Benommenheit des Schocks wie bei jedem Mißgeschick. Ein sich Zurückziehen von ihrem Körper und ihren Gefühlen. Michel würde diese Reaktion zweifellos gesünder nennen. Aber warum? Es

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