Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars
alle gehen. In ihr steckt eine unerbittliche Macht, wie ein nach vorn ziehendes Vakuum. Das kann ich in diesen Tagen beinahe fühlen.« Und er sah glücklich aus.
Dann holten sie ihr Gepäck aus dem Stauraum über den Sitzen, und er küßte sie auf die Wange. Er war mager und hart und entglitt ihr. »Wir werden weiter daran arbeiten, nicht wahr? Ich werde dich und Michel in Odessa besuchen. Ich liebe dich.«
Natürlich fühlte sie sich dadurch besser. Kein Gipfelerlebnis, aber eine Bahnfahrt mit Nirgal, eine Chance mit diesem schwer erreichbaren Eingeborenen, ihrem überaus geliebten Sohn.
Aber nach der Rückkehr vom Berg war sie weiterhin das Opfer ihrer >mentalen Vorfalle A wie Michel sie nannte. Er wurde jedesmal besorgter, wenn sich einer ereignete. Maya merkte, daß sie ihn erschreckten, obwohl er das zu verbergen suchte. Und das war auch kein Wunder. Solche >Vofälle< und andere ähnliche kamen bei vielen seiner älteren Patienten vor. Die gerontologischen Behandlungen halfen anscheinend nicht dagegen, daß sich die Erinnerungen der Menschen an ihre immer länger werdenden Vergangenheiten klammerten. Und als ihnen ihre Vergangenheiten von Jahr zu Jahr mehr entglitten und ihr Gedächtnis nachließ, traten die >Vorfälle< immer häufiger auf, bis einige Leute sogar in Nervenkliniken überwiesen werden mußten.
Oder aber sie starben. Das Institut für Erste Siedler, mit dem Michel zusammenarbeitete, nahm jedes Jahr eine kleinere Gruppe von Personen auf. Auch Vlad starb in jenem Jahr. Danach zogen Marina und Ursula von Acheron nach Odessa. Nadia und Art waren schon nach West-Odessa übergesiedelt, nachdem ihre Tochter Nikki erwachsen geworden und in die Welt gezogen war. Sogar Sax Russell nahm sich ein Apartment in der Stadt, obwohl er immer noch den größten Teil des Jahres in Da Vinci verbrachte.
Für Maya waren diese Veränderungen sowohl gut als auch schlecht. Gut, weil sie all diese Leute liebte und es sich so ergab, als ob sie sich um sie scharten, was ihrer Eitelkeit wohltat. Und es war eine große Freude, ihre Gesichter zu sehen. So half sie zum Beispiel Marina, Ursula beizustehen, daß diese mit dem Verlust von Vlad fertig wurde. Es schien, als ob Ursula und Vlad irgendwie das echte Paar gewesen wären, obwohl Marina und Ursula... Nun, es gab keine Gewißheit über die drei Punkte einer menage ä trois, ganz gleich, wie sie auch zusammengesetzt war. Jedenfalls waren Marina und Ursula jetzt übrig geblieben, ein in seinem Kummer sehr enges Paar, sonst aber sehr wie die jungen eingeborenen gleichgeschlechtlichen Paare, die man in Odessa sah. Männer Arm in Arm auf der Straße, und Frauen Hand in Hand.
So freute sie sich, die beiden oder Nadia oder sonst jemanden von der alten Bande zu sehen. Aber sie konnte sich nicht immer an die Ereignisse erinnern, die sie als unvergeßlich erörterten. Und das war beunruhigend. Eine andere Art von Jamals vu, ihr eigenes Leben. Nein, es war besser, sich auf den Moment zu konzentrieren, hinunter zu gehen und am Wasser zu arbeiten oder an der Beleuchtung des aktuellen Stückes oder in den Bars zu sitzen und mit neuen Freunden von der Arbeit zu plaudern oder auch mit völlig Fremden. Zu warten, daß die Erleuchtung eines Tages kommen würde...
Samantha starb. Dann Wasili. Oh, es lagen zwei oder drei Jahre dazwischen; aber dennoch schien sich das Häufigkeitsmuster nach den langen Dekaden, in denen niemand von ihnen gestorben war, zu beschleunigen. Sie überstanden diese Leichenbegräbnisse so gut sie konnten. Inzwischen wurde alles dunkler, als auf der Corniche ein schwarzer Windstoß über dem Hellespont heranrückte. Die Nationen der Erde schickten immer noch illegale Einwanderer und landeten sie. Die UN drohten noch immer. China und Indonesien gingen sich plötzlich gegenseitig an die Kehle, und Rote Saboteure jagten immer aggressiver die neuen Einrichtungen in die Luft - ohne Unterschied, rücksichtslos und mörderisch. Dann kam Michel eines Tages schwer bekümmert die Treppe herauf: »Yeli ist gestorben.«
»Was? Nein, o nein!«
»Eine Art von Herzarhythmie.«
»O mein Gott!«
Maya hatte Yeli seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen; aber noch einen der restlichen Ersten Hundert zu verlieren, die Möglichkeit zu verlieren, Yelis schüchternes Lächeln wiederzusehen... nein. Sie hörte den Rest von dem, was Michel sagte, nicht, weniger aus Kummer als aus Erregung. Oder Kummer über sich selbst.
»Das wird nun immer öfter passieren«, sagte sie schließlich,
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