Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
Ich ging wieder an den Tisch meiner jungen Freunde.
»Du bist uns voraus«, stellte Sébastien fest.
»Das ist so bei den Alten.«
Cue bahnte sich einen Weg zu meinem Tisch. Sie zog die Blicke
Auf sic h. In hautengen schwarzen Jeans und T-Shirt unter einer Jeansjacke. Ich hörte Sébastien ein »Donnerwetter, ist die knackig!« zischen. Es war bescheuert, sie hier herkommen zu lassen, aber ich war nicht mehr klar genug im Kopf, um irgendetwas einschätzen zu können. Nur sie. Ihre Schönheit. Neben ihr verblasste sogar Jane March.
Sie fand auf wunderbare Weise einen Stuhl und setzte sich mir gege nüber. Die jungen Leute machten sich sofort unsichtbar. Sie überlegten, ob sie »woanders« hingehen sollten. Ins Intermédiaire zwei Schritte weiter, wo der Bluessänger Doc Robert verkehrte? Ins Cargo, eine neue Szenekneipe an der Rue Grignan? Jazz, mit dem Mola-Bopa-Quartett? Damit konnten sie auch Stunden zubringen. Plätze in Erwägung ziehen, wo sie die Nacht beenden würden, ohne sich vom Fleck zu rühren.
»Was trinkst du?«
»Das Gleiche.«
Ich machte Hassan ein Zeichen.
»Hast du schon gegessen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Eine Kleinigkeit, gegen acht.«
»Trinken wir ein Glas, und dann lade ich dich zum Essen ein. Ich habe Hunger.«
Sie zuckte mit den Schultern und schob sich das Haar hinter die Ohren. Die tödliche Geste. Sie kehrte mir ihr ganzes, freies Gesicht zu. Ein Lächeln erschien auf den diskret nachgezogenen Lippen. Sie fixierte mich. Wie ein Falke, der sein sicheres Opfer erspäht hat. Cue schien auf dem schmalen Grad zwischen menschlicher Rasse und animalischer Schönheit zu wandern. Das hatte ich vom ersten Moment an begriffen.
Jetzt war es zu spät.
»Prost«, sagte ich. Weil ich nichts anderes zu sagen wusste.
Cue hörte sich gern reden und tat sich während der ganzen Mahl - zeit keinen Zwang an. Ich hatte sie zu Louryam Carré Thiars in der Nähe des Alten Hafens geführt. Man isst gut dort, ob es dem »Gault Millau« nun gefällt oder nicht. Und sie haben den besten Vorrat an provenzalischen Weinen. Ich wählte einen Châ teau-Sainte-Roseline. Ohne Frage der edelste Rote aus der Provence. Und der sinnlichste.
»Meine Mutter stammt aus gutem Hause. Gebildeter Adel . Mein Vater war Ingenieur. Er hat für die Amerikaner gearbeitet . 1954 haben sie den Norden verlassen. Nach der Teilung des Landes. Er hat durch diesen Schritt seine Wurzeln verloren. Danach wurde er nie mehr glücklich. Die Kl uft zwischen ihm und meiner Mutter wuchs. Er hat sich immer mehr in sich selbst zurückgezogen. Hätten sie sich doch nur nie kennen gelernt ... Sie gehörten zwei verschie - denen Welten an. In Saigon empfing man nur die Freunde meiner Mutter. Man sprach nur von Dingen, die aus den Vereinigten Staaten oder Frankreich herüberkamen. Damals wussten wir alle schon, dass der Krieg verloren war, aber... Es war seltsam, wir beka - men vom Krieg nichts mit. Später ja, während der Großoffensive der Kommunisten. Das heißt, es herrschte Kriegsklima, aber kein Krieg. Wir lebten nur in ständiger Angst. Viele Kontrollen, nächtliche Haussuchungen.«
»Ist dein Vater dort geblieben?«
»Er wollte nachkommen. Das hatte er gesagt. Ich weiß nicht, ob er es wirklich wollte. Er wurde verhaftet. Wir haben herausgefunden, dass er im Lager Lolg-Giao sechzig Kilometer von Saigon interniert wurde. Aber wir haben nichts mehr von ihm gehört. Sonst noch Fragen?«, fragte sie und trank aus.
»Sie könnten indiskret werden.«
Sie lächelte. Dann schob sie sich wieder mit dieser Geste das Haar hinter die Ohren. Jedes Mal bröckelte meine Selbstverteidigung. Ich fühlte mich dieser Geste ausgeliefert. Ich wartete darauf, sehnte sie herbei.
»Adrien habe ich nie geliebt, wenn es das ist, was du wissen willst. Aber ich schulde ihm alles. Als ich ihn kennen lernte, war er voller Enthusiasmus und Liebe. Durch ihn konnte ich aus dem Elend herauskommen. Er hat mir Sicherheit gegeben und es mir ermög - licht, mein Studium zu Ende zu führen. So schöpfte ich plötzlich neue Hoffnung. Für mich, für Mathias. Ich glaubte an ein Danach.«
»Und wenn Mathias' Vater zurückkommt?«
In ihren Augen blitzte es gefährlich auf, aber das Donnerwetter blieb aus. Sie schwieg und sprach dann ernst weiter.
»Mathias' Vater war ein Freund meiner Mutter. Ein Französischlehrer. Er gab mir Hugo, Balzac und später Celine zu lesen. Ich fühlte mich wohl in seiner Gesellschaft. Wohler als mit den Mädchen aus dem Gymnasium, die
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