Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
Schon bevor in all den kleinen Straßen von La Plaine bis zum Cours Julien reihenweise Kneipen, Restaurants und Bouti - quen für modische Fummel und Fetzen aufgemacht hatten. Heute war das Viertel reichlich aufgemotzt. Aber das war alles relativ. Immerhin stolzierte man dort nicht in Lacoste-Hemden herum, und der Pastis floss bis in die frühen Morgenstunden.
Vor ein paar Monaten war Hassans Kneipe über Nacht in Brand geraten. Weil sein Bier das billigste in ganz Marseille war, hieß es. Vielleicht stimmte das. Vielleicht auch nicht. Es wird immer viel erzählt. In dieser Stadt nährt eine Geschichte die nächste. Noch mysteriöser. Noch geheimnisvoller. Sonst ist sie nur eine simple Nachricht auf den Seiten für Vermischtes und keinen Pfifferling wert.
Hassan hatte seine Kneipe wieder hergerichtet. Alles neu ge - strichen und so weiter. Dann hatte er ruhig, als sei nichts geschehen, das Foto an die Wand gehängt, auf dem Brel , Brassens und Ferré zusammen zu sehen sind. Sie sitzen an einem Tisch. Für Hassan war dieses Foto ein Symbol. Und eine Empfehlung. Bei ihm hörte man keinen Schund. Musik hatte nur einen Sinn, wenn sie von Herzen kam. Als ich eintrat, sang Ferré gerade:
O Marseille, man könnte meinen, das Meer habe geweint.
Seine Tränen sind deine Worte in den Straßen vereint,
wo die Leidenschaft nicht mehr alles verzehrt
und in deinen Menschen die Trauer einkehrt. O Marseille...
Ic h hatte mich zu einer Gruppe junger Leute an einen Tisch gesetzt, die ich flüchtig kannte. Stammgäste. Mathieu, Véronique, Sébastien, Karine, Cédric. Als ich mich setzte, hafte ich eine Runde ausge - geben, und die anderen folgten meinem Beispiel. Jetzt spielte Sonny Rollins Without a Song. Mit Jim Hall an der Gitarre. Das war sein schönstes Album, The Bridge.
Es tat mir wahnsinnig gut, dort in einer normalen Welt zu sein. Unter jungen Leuten, die sich wohl in ihrer Haut fühlten. Fröhliches Lachen zu hören. Gespräche, die glücklich über dem Alkoholdunst schwebten.
»Aber verflucht, wir dürfen nicht danebenzielen«, ereiferte sich Mathieu. »Was hast du gegen die Pariser? Den Staat müssen wir angreifen. Was sind schon die Pariser? Sie sind bloß direkter betroffen, das ist alles. Sie leben Seite an Seite mit dem Staat, deshalb. Wir sind weiter weg, dadurch gehts uns zwangsläufig besser.«
Das andere Marseille. Ein Hauch von Anarchie in der Erinnerung. Hier hatte während der Commune von 1871 für achtundvierzig Stunden die schwarze Flagge über der Präfektur geweht. Fünf Minuten später sprache n sie ohne Übergang von Bob Mar ley. Von den Jamaikanern. Sie würden sich gegenseitig beweisen, dass ein multikultureller Mensch zweifellos mehr Verständnis für die anderen aufbrachte. Die Welt. Davon konnten sie die ganze Nacht reden.
Ich stand auf und bahnte mir einen Weg an den Tresen, um zu telefonieren. Sie nahm nach dem ersten Klingeln ab, als hätte sie neben dem Telefon gesessen und auf einen Anruf gewartet.
»Montale hier«, sagte ich. »Ich habe Sie hoffentlich nicht geweckt?«
»Nein«, sagte Cue. »Ich dachte mir schon, dass Sie noch mal anrufen würden. Früher oder später.«
»Ist Ihr Mann da?«
»Er ist in Fréjus, geschäftlich. Er kommt morgen zurück Warum?«
»Ich wollte ihn etwas fragen.«
»Vielleicht kann ich Ihnen antworten?«
»Das würde mich wundern.«
»Fragen Sie trotzdem.«
»Hat er Hocine umgebracht?«
Sie legte auf.
Ich wählte noch einmal. Sie nahm sofort ab.
»Das ist keine Antwort«, meinte ich. Hassan stellte mir einen Whisky hin. Ich zwinkerte ihm dankend zu.
»Das war keine Frage.«
»Dann habe ich eine andere. Wo kann ich Mathias treffen?«
»Warum?«
»Beantworten Sie eine Frage immer mit einer Gegenfrage?«
»Ich bin nicht verpflichtet, Ihnen zu antworten.«
»Naïm a muss bei ihm sein!«, rief ich.
Die Kneipe war brechend voll. Um mich herum rieb sich Ellen - bogen an Ellenbogen. B. B. King füllte die Lautsprecher mit Rock My Baby und alle brüllten mit.
»Na und?«
»Na und! Hören Sie auf, die Unwissende zu spielen! Sie wissen, was los ist. Sie ist in Gefahr. Und ihr Sohn auch. Daran besteht kein Zweifel! Kein Zweifel!«, wiederholte ich, diesmal laut schreiend.
»Wo sind Sie?«
»In einer Kneipe.«
»Das höre ich. Wo?«
»Im Maraîchers. Im La-Plaine-Viertel.«
»Das kenne ich. Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich komme.« Sie legte auf.
»Alles klar?«, fragte Hassan.
»Ich weiß nicht.«
Er schenkte mir nach, und wir stießen an.
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