Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
gelang uns, ihm zweieinhalb Jahre anzuhängen. Aber über seine Lieferanten hatte er nichts aus - gespuckt. »Ich komme aus diesem Milieu«, hatte er gesagt. »Ich kann niemanden anklagen. Aber ich kann mein Leben vor dir ausbreiten, wenn du willst ...« Das wollte ich mir nicht anhören. Sein Leben kannte ich.
Mourad sprach weiter. Redouanes Leben glich dem von Bachir und von hunderten anderen.
»Als Redouane mit den Drogen anfing, hat er uns nicht mehr ins Kino eingeladen, verstehst du. Er hat uns die Knete so zugeschoben. › Da, kauf dir, was du willst. ‹ Fünfhundert, tausend Francs. Einmal hab ich mir davon Reebocks gekauft. Die waren genial. Aber eigent - lich war ich nicht sehr glücklich damit. Das war kein Geschenk. Zu wissen, wo das Geld herkam, gefiel mir nicht. An dem Tag, als Redouane geschnappt wurde, habe ich sie weggeworfen.«
Woran lag es, fragte ich mich, dass Kinder aus derselben Fami lie unterschiedliche Wege gingen? Die Mädchen, das verstand ich Ihr Streben nach Erfolg war ihre Fahrkarte in die Freiheit. Unabhängigkeit. Freie Wahl des Ehemannes. Eines Tages würden sie die Vorstädte im Norden verlassen. Ihre Mütter halfen ihnen dabei. Aber die Jungen? Wann hatte sich zwischen Redouane und Mourad ein Graben aufgetan? Wie? Warum? Das Leben war voller solcher Fragen ohne Antwort. Dort, wo es keine Antworten gab, verbarg sich manchmal gerade ein Schlupfloch für ein kleines Glück. Als wollte es den Statistiken eine lange Nase drehen.
»Was ist passiert, dass er sich so geändert hat?«
»Das Gefängnis. Zu Anfang hat er den Gangsterboss gespielt. Sich geschlagen. Er hat gesagt: › Du musst ein Mann sein. Wenn du kein Mann bist, bist du verraten und verkauft. Man trampelt auf dir herum. Du bist nur ein dreckiger Hund. ‹ Dann hat er Said kennen gelernt. Einen Gefängnisgeistlichen.«
Von Said hatte ich gehört. Ein ehemaliger Knastbruder, der Prediger geworden war. Ein Anhänger der fundamentalistischen Tabligh-Bewegung, die ursprünglich aus Pakistan kam und ihre Anhänger vor allem in den armen Vorstädten rekrutiert.
»Den kenne ich.«
»Nun, von dem Tag an wollte er nichts mehr von uns wissen. Er hat uns einen abgedrehten Brief geschrieben. Von der Art ...« Er dachte nach, suchte die passenden Worte. » › Saïd ist wie ein Engel, der zu mir gekommen ist. ‹ Oder: › Seine Stimme ist weich wie Honig und weise wie die des Propheten. ‹ Durch Said hatte er das Licht gesehen, das schrieb mein Bruder. Er hat angefangen, Arabisch zu lernen und den Koran zu studieren. Und er hat im Gefängnis keinen mehr schikaniert. Als er wegen guter Führung auf Bewährung rausgekommen ist, war er verändert. Er trank nicht mehr, rauchte nicht mehr. Er hatte sich ein kleines Bärtchen stehen lassen und grüßte die Leute, die nicht in die Moschee gingen, nicht mehr. Er las tagein, tagaus im Koran. Laut rezitierend, als wollte er Sätze daraus auswendig lernen. Naïma erzählte er von Schamhaftigkeit und Würde. Wenn wir unseren Großvater besuchten, hat er mit heiligen Sprüchen gekatzbuckelt. Der Großvater fand das zum Lachen, er war schon lange nicht mehr in der Moschee gewesen! Verstehst du, er hat sogar versucht, seinen Akzent abzulegen ... Im Viertel hat ihn niemand wiedererkannt.
Dann hat er Besuch gekriegt. Von bärtigen Typen in Dschella bas, und mit dicken Schlitten. Redouane ist nachmittags mit ihnen losgezogen und spät abends wiedergekommen. Danach kamen noch andere Typen in weißer Abaya und mit Turban. Eines Morgens hat er seine Sachen gepackt und ist abgehauen. Um Mohammeds Lehren zu folgen, hat er meinem Vater und meiner Mutter gesagt. Mir hat er anvertraut, und daran erinnere ich mich ganz genau: Dass er auf die Suche nach einer Waffe ging, um unser Land zu befreien. › Wenn ich zurückkomme, nehme ich dich mit ‹ , hatte er hinzugefügt.
Er ist über drei Monate weggeblieben. Als er zurückkam, hatte er sich noch mehr verändert, aber er hat sich nicht um mich gekümmert. Hat nur gesagt, ich soll dies nicht machen, das nicht machen. Und dann: › Ich will nichts mehr von Frankreich wissen, Mourad. Das sind nur Arschlöcher. Hämmer das in deinen kleinen Schädel rein! Bald wirst du stolz auf deinen Bruder sein, du wirst schon sehen. Er wird von sich reden machen. Mit großen Taten. Inschallah. ‹ «
Wo Redouane hingegangen war, konnte ich mir vorstellen. In Serges ganzem Papierkram war ein dickes Dossier über die »Wallfahrten«, die der Tabligh ‒ aber nicht nur er
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