Marsha Mellow
zu früher.«
»Hast du ihn denn mal gefragt?«
»Ja ... Er behauptet, das sei wegen der Firma.«
»Dann wird das auch so sein.«
Mein Vater hat sich schon immer gern hinter seiner Arbeit verschanzt. Er produziert in großem Stil Kleiderbügel. In seiner Fabrik werden sie zu Tausenden hergestellt. Und zwar nicht die stabilen aus Holz, die man in besseren Hotels mitgehen lässt (macht doch jeder, oder?), sondern die billigen aus Draht, die bereits beim Anblick einer dicken Jacke schlapp machen. Ich habe nie begriffen, wie man so sehr damit beschäftigt sein kann, Kleiderbügel herzustellen, bis mir aufging, dass das Dads Taktik ist, um Mum aus dem Weg zu gehen. Manche Menschen flüchten sich in den Alkohol, um der Realität zu entfliehen. Andere werden süchtig nach ihrer PlayStation. Wieder andere biegen eben Draht zu Bügeln. Selbst zu Hause geht er ihr aus dem Weg, indem er sich in seiner Garage verkriecht. Ich weiß zwar nicht genau, was er dort immer treibt, aber ich vermute, es hat mit Werkzeug zu tun. Und mit Holz. Das nehme ich jedenfalls an, da er gelegentlich mit einem Stück Holz auftaucht, das vage an ... ähm ... etwas aus Holz erinnert.
»Du weißt doch, wie er ist«, rede ich weiter. »Bestimmt steht er kurz vor einem technologischen Durchbruch - ein revolutionärer Bügel, der sich nicht biegen lässt, oder so ähnlich.«
»Es hat nichts mit der Firma zu tun«, beharrt Mum. »Er ist so anders. Distanziert. Leicht reizbar.«
Das sieht Dad überhaupt nicht ähnlich. Gut, distanziert schon - seine Werkstatt hätte auch genauso gut eine Mondfähre sein können, mit der er ständig im All unterwegs ist bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen Lisa und ich ihn in unserer Kindheit zu Gesicht bekommen haben, jedoch keinesfalls leicht reizbar. Gereiztheit kenne ich normalerweise von meiner Mutter.
»Du solltest mit ihm darüber reden«, schlage ich vor.
»Ich kann nicht. Ich habe Angst vor seiner Reaktion.«
Meine Mum und Angst? Das ist ja schräg.
»Soll ich ihm vielleicht mal auf den Zahn fühlen?«, schlage ich als Nächstes vor.
»Er wird dir bestimmt nicht prompt sein Herz ausschütten, oder?«
»Das nicht, aber ich bezweifle ernsthaft, dass er eine Affäre hat, Mum. Da muss etwas anderes dahinter stecken. Vielleicht hat er ja genauso viel Angst wie du, dich darauf anzusprechen.« Ich weiß, wovon ich rede. Es gibt nichts, was ich nicht über die Angst weiß, Mum auf etwas anzusprechen.
Mit tränenverschleiertem Blick sieht sie mich an. »Würdest du mal mit ihm reden, Liebes?«, presst sie mit weinerlicher Stimme hervor, die mir völlig neu an ihr ist.
»Ja, sicher«, verspreche ich ihr, als hätte ich nicht schon genügend eigene Probleme. Als würde das allergrößte Geheimnis der Welt - zumindest seit der Frage »Wer hat JR erschossen?« - mir nicht ständiges Kopfzerbrechen bereiten, sodass es mir wahrscheinlich jeden Moment die Schädeldecke wegsprengen wird.
Auf dem Weg in die Küche, um Kaffee aufzusetzen, kommen mir Marys Worte wieder in den Sinn: »So schlimm wird es schon nicht. Immerhin ist sie deine Mutter. Sie liebt dich bedingungslos.« Erst jetzt kommt mir der Gedanke, dass sie vielleicht Recht hat. Nein, sie liegt völlig falsch. Meine Mutter ist so schlimm. Aber im Moment ist sie völlig aufgelöst und wehrlos. Bestimmt wäre das jetzt der passende Zeitpunkt, um es ihr zu sagen. Während sie auf meinem Sofa Rotz und Wasser heult, könnte ich ihr doch gut meine kleine Beichte unterjubeln? Ich meine, zuerst der eigene Mann plötzlich ein verabscheuungswürdiger Ehebrecher, und dann noch die Tochter, die die öffentliche Moral auf das Abscheulichste korrumpiert, das fällt doch praktisch gar nicht mehr ins Gewicht. Gut, man wird mir vorwerfen, die arme Frau noch getreten zu haben, als sie schon am Boden lag, aber wenn sie steht, ist sie verdammt gefährlich. Ich muss zuerst an meine eigene Sicherheit denken.
Ja, ich tue es.
Während ich heißes Wasser in die Tassen fülle, überlege ich mir die passenden Worte. »Mum, morgen erscheint ein Artikel in der Mail über mich, auch wenn mein Name nicht dabeisteht. Ich möchte, dass du weißt, dass, was immer die auch schreiben, ich dir niemals wehtun wollte. Nein, vielmehr wollte ich, dass du stolz auf mich bist...« Das gefällt mir. Das hört sich nämlich an, als würde ich in erster Linie an sie denken, obwohl das nicht stimmt.
Ich begebe mich wieder ins Wohnzimmer, stelle die Tassen auf den Tisch und komme direkt zur Sache
Weitere Kostenlose Bücher