Marshall McLuhan
privat als auch in der Öffentlichkeit. Und seine mangelnde Bereitschaft, Spezialgebiete ihrem Ghettodasein zu überlassen, trug ihm sowohl öffentlichen Ruhm als auch akademischen Ärger ein.
Harmonie und Disharmonie
Marshalls erste Jahre auf dem College waren vielleicht die letzten, in denen man ihn noch als durchschnittlich bezeichnen konnte. Abgesehen von der Tatsache, dass er größer und dünner als die meisten seiner Kommilitonen war – und durch einen Hang zum Debattieren und diverse rhetorische Fähigkeiten auffiel –, war der junge Marshall ein ziemlich typischer B+/A-Student, wie man ihn damals auf jedem nordamerikanischen Campus finden konnte. Er beschloss, englische Literatur zu studieren.
Zur Zeit der Weltwirtschaftskrise in Winnipeg englische Literatur zu studieren war eine trockene, freudlose Angelegenheit. Im Fachbereich Englisch war man größtenteils weder informiert über eine neuen Betrachtungsweise von Literatur – ab1941 als New Criticism bezeichnet –, die bereits in England populär geworden war, noch war man daran überhaupt interessiert. Marshall musste feststellen, dass in seiner Heimatstadt die literarische Ausbildung schlichtweg darin bestand, den Studenten durch die Lektüre »schöner Bücher« eine kleinbürgerliche Kultur zu vermitteln. Ein Literaturstudium war im Grunde nichts anderes als ein stark programmatisch angelegter, verkappter Buch-des-Monats-Club. Das Werk eines längst verstorbenen Autors aus einem neuen (oder das eines lebenden aus überhaupt irgendeinem) Blickwinkel zu betrachten, war nicht erwünscht.
Ärgerte Marshall das? Wahrscheinlich ganz schön. Auch wenn er bestimmt kein Freund der Moderne war, war er doch immer offen für eine Neuinterpretierung der Alten Welt, vor allem, wenn es um das Echo zwischen einem Schritt in Richtung Modernität (zum Beispiel der Erfindung des Buchdrucks) und dem nächsten (zum Beispiel der elektronischen Revolution) ging. Tatsächlich sehnte Marshall sich nach einer vormodernen, noch nicht technologisierten Zeit, als die Menschen miteinander redeten, statt fernzusehen (was er sich nie angewöhnte), und Bücher von Priestern in der Kirche vorgelesen wurden. Paradoxerweise verteufelten seine Kritiker ihn später vor allem deswegen, weil sie ihn für bücherfeindlich und technikfreundlich hielten.
Marshall hatte sicherlich nichts dagegen, dass die Universität sich auf einen streng konventionellen Kanon von Autoren konzentrierte. Er selbst spezialisierte sich irgendwann auf Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert. Was Marshall nicht mochte, war die Art, wie Literatur gelehrt wurde und wie die Studenten an sie herangeführt wurden. Er empfand die Literaturbetrachtung als veraltet und roboterhaft und vermisste die Vielfalt an Perspektiven, aus denen etwas Altes neu interpretiert werden konnte. Er war entschlossen, neue Linsen zu entdecken, durch die sich die Vergangenheit betrachten ließe – und neue Sichtweisen,um das menschliche Dasein in einer Art einheitlichen Theorie zusammenzufassen, die mit den bestehenden konventionellen Theorien wahrscheinlich nicht viel zu tun hatte. In diesem Sinne war er ganz er selbst, schon in jungen Jahren.
Und im Geiste sehen wir Marshall, wie er Michel Eyquem de Montaignes Essais in sich aufsaugt, an einem kalten Winterabend vor dem Kamin, fast genau im Mittelpunkt Nordamerikas in der dritten Dekade des 20. Jahrhundert.
Hier einige der von Marshall besuchten Kurse an der University of Manitoba: 5
Literaturgeschichte
Chaucer und Spenser
Shakespeare
Milton
Restauration und Literatur des 18. Jahrhunderts
Viktorianische Lyrik und Prosa
Elementares Altenglisch, Mittelenglisch und weiterführendes Englisch Amerikanische, zeitgenössische und kanadische Lyrik
Meisterwerke europäischer Literatur (unter anderem Homer, Plato, Virgil, Dante, Montaigne, Cervantes)
Halb losgelöst
Marshalls Tagebücher aus seiner Studentenzeit offenbaren, wie unsicher er anderen gegenüber war, ungeachtet seines coolen Auftretens, und wie puritanisch – oder vielleicht auch ritterlich – gegenüber Frauen, zumal er von Sexualität offenbar so gut wie keine Ahnung hatte. Sie lebten in der Prärie und es war die Zeit der Weltwirtschaftskrise. Da redete man nicht über diese Dinge. Seine Mutter war das einzige weibliche Rollenvorbild, und die war ein wandelndes Feuerwerk. Elsie brachte Marshall ein Mädchen nach dem anderen mit nach Hause, aber was konnte schlimmer sein als ein Mädchen, das Elsie ausgesucht
Weitere Kostenlose Bücher