Marshall McLuhan
hatte?
Angewidert von der eigenen Lust und den obszönen Sprüchen seiner Geschlechtsgenossen, beschloss er, mit dreißig jungfräulich zu heiraten. Er schwärmte für die junge amerikanische Fliegerin Elinor Smith und schrieb, inspiriert von ihrem Foto, Gedichte an sie. Er hatte keine Ahnung, wie Frauen tickten. Und er steckte in einer Zwickmühle: Eine Frau, die seiner Begierde nachgab, durfte er auf keinen Fall begehren. Er hatte keine Angst davor, sich zu verlieben, sondern nur, sich in die Falsche zu verlieben – eine, die oberflächlich und geistlos war. Frauen standen in seinen Augen intellektuell nicht auf einer Stufe mit Männern.
Er spielte Rugby und Hockey und beteiligte sich (natürlich) gern an Diskussionen. Er hatte einen guten Freund, Tom Easterbrook, und ihre Lieblingsbeschäftigung war es zu debattieren.
Schnappschüsse aus jener Zeit tauchen vor dem inneren Auge auf: Marshall, wie er als Ferienjob schmierige Pestizide über Moskito-Brutstätten versprüht … wie er bei einer Studentenfeier jemanden zum Tanzen auffordern soll … wie er sein selbstgebautes Modellsegelboot auf dem Red River fahren lässt … wie er an einem verschneiten Tag mit dem Bus durch dieStadt fährt und die Neonreklame in den beschlagenen Schaufenstern blinkt … wie er allein in seinem Zimmer sitzt, mit einem übertrieben hohen Stapel Bücher, deren Inhalt er wie eine Droge systematisch in sich aufsaugt … wie er mit Maurice über Gott diskutiert … wie er mit Elsie über seine innere Einstellung diskutiert … wie er in seinen Tagebüchern über seine Mutter herzieht und flucht … wie er über sich selbst herzieht und flucht, weil er solche Gedanken hat … wie er am 10. März 1930 in sein Tagebuch schreibt: »Ich muss, muss, muss berühmt werden« … wie Elsie aus dem Haus stürmt und erst Wochen später oder vielleicht sogar nie wiederkommt.
Arrrrr!
Im Sommer 1932 stürzten Marshall und sein Freund Tom sich in ein Abenteuer. Sie fuhren mit einem Viehtransporter nach England. Nachts hüteten sie das Vieh, und Marshall war die meiste Zeit seekrank.
Die beiden hatten jeder hundert Dollar, mit denen sie drei Monate auskommen mussten, aber das war ihnen egal. Marshall, der mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit noch nie etwas gesehen hatte, das vor 1900 gebaut wurde, war hin und weg: Überall standen alte Gebäude, und mit etwas Glück konnte er passend dazu ein Sonett oder eine Ode aus dem 19. Jahrhundert rezitieren. Es war weniger ein Urlaub als eine Zeitreise, und es besiegelte Marshalls Wunsch, nach seinem Studium dorthin zurückzugehen und in dem Land weiterzustudieren, das er jetzt als seine geistige Heimat ansah.
Eine Entdeckung, die er dort machte, waren die Schriften G. K. Chestertons, eines englischen Autors aus dem frühen 20. Jahrhundert, zu dem sich Marshall hingezogen fühlte und der ihn gleichzeitig ärgerte. Beide sehnten sie sich nach einer Struktur, einem Gerüst, das der modernen Welt einen Sinn gab.Ein berühmter »Chestertonismus« (Chesterton liebte Aphorismen und verschrobene Wortspiele) lautet: »Die gesamte moderne Welt hat sich in Progressive und Konservative aufgeteilt. Die Aufgabe der Progressiven ist es, Fehler zu machen. Die Aufgabe der Konservativen ist es, dafür zu sorgen, dass die Fehler nicht berichtigt werden.«
Nichts beschreibt besser Marshalls skeptische und eher verkrustet-konservative Haltung gegenüber der Politik, eine Haltung, die er sein ganzes Leben lang beibehielt, und ein Thema, über das er sowohl in der Öffentlichkeit als auch privat so gut wie nie sprach. In einer Gesellschaft, die sich in progressiv und konservativ aufspaltet, ist kein Platz für das Ewig-Gültige.
In Marshalls und Chestertons Leben gibt es viele Gemeinsamkeiten. Beide konvertierten in ihren Dreißigern zum Katholizismus, und beide hatten etwas opahaftes, lange bevor sie alt waren.
Am Ende war Marshalls Interesse an Chesterton eher unbeständig, so wie bei anderen älteren Persönlichkeiten in seinem Leben, die ihn beeinflussten, zum Beispiel Wyndham Lewis. Das waren Beziehungen wie die zu Elsie, ein Verhältnis zwischen Leser und Autor, Junior und Senior, Liebe und Hass, wie man es zu einer Autoritätsperson hat, die einen stark an einen selbst erinnert. In gewisser Hinsicht beschreibt diese Dynamik Marshalls Verhältnis zur Literatur und zu den Medien – voller Zuneigung, und doch auch gegen sie aufbegehrend.
Zurück in Winnipeg setzte Marshall sein Studium an der University of Manitoba fort.
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