Marshall McLuhan
kommen.
1922, als Marshall elf war, begann Elsie als Sprecherzieherin in die entlegensten Ecken des Landes zu reisen, um Kurse in szenischem Lesen zu geben, die meistens in Gemeindesälen stattfanden und zu denen sie die Jungs manchmal im Zug mitnahm. Diese Reisen vermittelten dem jungen Marshall ein höchst nordamerikanisches Gefühl für Entfernungen, für die Unendlichkeit und unterschwellig auch dafür, warum es notwendig war, dass Menschen und Informationen die Weiten derNeuen Welt durchquerten. Das Funkwesen steckte in seinen kommerziellen Kinderschuhen. Telefonanrufe nach Sonnenuntergang bedeuteten schlechte Nachrichten, höchstwahrscheinlich Tod. Kommunikation war weitgehend schwierig und teuer – aber in dieser expansiven, einsamen Welt unentbehrlich. Elsies Beruf machte Marshall außerdem mit dem Knetgummi-Charakter von Worten vertraut, ihrer Wandlungsfähigkeit, der Art, wie sie auf der Zunge ihre Gestalt verändern.
Das Fehlen kosmopolitischer Zerstreuungen in seinem jungen Leben entsprach Marshalls Natur. Er war ein ruhiges Kind, und Maurice und er verbrachten die Nachmittage oft mit dem Vater, der eine (für die damalige Zeit) ungewöhnliche Freude daran hatte, vielleicht auch um Elsies zunehmend längere Abwesenheit von Zuhause auszugleichen.
Herbert und Elsie stritten häufig. Beziehungsweise war es eher Elsie, die stritt, während Herbert die Probleme herunterspielte, was Elsie wiederum auf die Palme brachte. Seine mangelnde Willensstärke brachte sie dazu, ihn auf eine Art zu tyrannisieren und zu verspotten, dass es für Marshall und Maurice, die oben im Bett lagen und die regelmäßigen Streitereien mit anhörten, schrecklich gewesen sein muss. Elsie hatte wie ihr Vater eine grausame Ader und keine Scheu, sie zu zeigen. Irgendwann fühlten die Jungs sich zu Hause wohler, wenn Elsie unterwegs war. Wenn sie wiederkam, ging das Chaos jedes Mal von vorne los.
Marshall und seine Mutter waren beide ausgemachte Sturköpfe und lieferten sich erbitterte verbale Schlagabtausche. Da Herbert als Gegner nicht geeignet war, freute sich Elsie, in ihrem Sohn einen würdigen Sparringspartner zu haben. Vielleicht stammt aus dieser Zeit Marshalls legendäre dicke Haut. Nach Elsies harter Schule konnten ihn anderer Leute Meinungen nicht mehr aus dem Gleichgewicht bringen.
Erstaunlicherweise war Marshall kein guter Grundschüler und wäre fast durch die sechste Klasse gefallen, wenn ihm Elsie(nicht Herbert) nicht zur Hilfe geeilt wäre und ihn durchgeboxt hätte. Aus welchen Gründen auch immer entwickelte Marshall genau zu diesem Zeitpunkt eine Liebe zur englischen Literatur. Elf Jahre lang war er Elsies Sprechkunstübungen ausgesetzt gewesen, aber egal ob nun Hormone, DNA oder ein Schlag auf den Kopf den Damm zum Einsturz brachten, erst dann wurde er zur Bücher verschlingenden Maschine, besessen von Wörtern und all ihren Aspekten: den historischen, grammatischen und idiosynkratischen, aber auch (und das ist das Besondere) den
physischen
– die Art, wie der Mund ein Wort formt, wie aus einem Wort Kunst wird. Für Elsie war Marshalls Hinwendung zur Literatur ein Geschenk des Himmels: Sie hatte in Marshall jetzt nicht mehr nur einen Sparringspartner, sondern plötzlich auch jemand, mit dem sie sich in der Kunst der Rhetorik austauschen konnte.
Quasi von einem Tag auf den anderen musste Marshall (größtenteils mit Freuden) weite Strecken englischer Literatur und Lyrik auswendig lernen – und nicht nur auswendig lernen, sondern auch mit Begeisterung vortragen: mit klarer Aussprache und präzisem Metrum und Ton, wie es die Alice Leone Mitchell School of Expression verlangte. In seinem späteren Leben als Akademiker und Dozent haute er die Leute damit reihenweise vom Hocker, vor allem seine Studienkollegen in Cambridge, die Marshall für einen Hinterwäldler gehalten hatten und stattdessen, wenn auch keinen Gelehrten, so doch jemanden, vor dem man besser nicht falsch zitierte, vor sich hatten.
Marshall war jedoch nicht nur gut im Zitieren, er war auch ein geborener Debattierer, der so gut wie jeden in seiner Umgebung in Grund und Boden reden konnte. Diese Fähigkeit musste teils vererbt und teils erlernt sein. Einige von Marshalls Vorfahren waren große Redner gewesen, aber dank seiner rhetorischen Fähigkeiten nach den Auseinandersetzungen mit Elsie hatte er mit seinen Lehrern und Klassenkameraden leichtes Spiel und scheute sich nicht, jeden zu verbessern, der einen Fehlermachte. Man kann sich ausmalen, wie es
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