Martin, Kat - Perlen Serie
gebunden. Phoebe, die sechs Jahre älter war als Grace und ein einfaches graues Kleid trug, rannte auf sie zu und drückte innig ihre Hand. Anschei- nend hatte sie nicht mehr damit gerechnet, ihre Herrin noch einmal wiederzusehen.
„Gott sei Dank, dass Sie in Sicherheit sind, Miss Grace! Man erzählt sich, dass Captain Sharpe ein Pirat ist!"
Grace versuchte zu lächeln. „Es war alles nur eine Verwechs- lung. Nachdem der Captain seinen Fehler bemerkt hatte, ließ er mich gehen."
Zum Glück wurde in diesem Moment das Badewasser ge- bracht, und Phoebe begann, sich nützlich zu machen. Sie legte Handtücher zurecht und holte ein Stück nach Lavendel duften- der Seife. Der Geruch erinnerte Grace an ein anderes Bad vor gar nicht langer Zeit. Rasch ermahnte sie sich, den Gedanken daran schnell zu verdrängen.
Phoebe half ihr beim Haarewaschen, und als Grace nach dem Bad vor dem kleinen Kohlefeuer saß, das im Kamin brannte, bürstete sie ihr die langen, dicken Strähnen aus und flocht das Haar zu einem Zopf.
„Danke, Phoebe. Jetzt bin ich aber furchtbar müde und wür- de mich sehr gerne ein wenig ausruhen. Ich werde Sie dann wieder rufen, wenn ich mich anziehen und nach unten gehen möchte."
„Natürlich, Miss Grace." Sobald ihre Kammerzofe das Zim- mer verlassen hatte, ließ Grace sich auf das Bett sinken und brach in Tränen aus. Sie vergrub ihr Gesicht in den Kissen und hoffte, dass niemand ihr Schluchzen hören würde.
Grace wachte nicht auf, als ihre Tante an die Tür klopfte und dann vorsichtig in das Zimmer schaute.
„Oh, die Kleine ist ja völlig erschöpft!" Matilda ließ sie schla- fen und ging wieder nach unten, um mit ihrer Freundin gemein- sam zu Abend zu essen. „Ich hoffe, dass mit dem Mädchen alles in Ordnung ist."
Elvira kostete von der Austernsuppe. „Mmh. Nun, Grace ist jetzt in Sicherheit, und du wirst dich um sie kümmern. Alles andere wird sich schon finden."
Matilda ließ ihren Löffel sinken, denn ihr war plötzlich der Appetit vergangen. Obwohl sie sich freute, dass Grace bei ihr war, fühlte sie sich auf einmal viel zu alt für derlei Dinge. „Ich hätte zu gerne mit dem Captain selber gesprochen und bin schon sehr gespannt darauf, was Grace von ihm zu erzählen hat."
„Immerhin scheint sie den Mann so weit gebracht zu haben, dass er sie nicht nach London ausgeliefert hat."
„Ja, immerhin ..." Matilda fragte sich allerdings auch, was der Captain wohl als Gegenleistung dafür gefordert haben mochte.
Ethan stand am Steuerrad. Seit sie den Hafen von Scarbo-
rough verlassen hatten, waren sie wieder von schwerer See um-
geben, und das kalte Wasser brandete in hohen Wellen über
die Reling. Ein eisiger Nordwind trieb salzige Gischt durch die
Luft, und selbst Ethans Wachstuchmantel vermochte kaum die
Kälte und Feuchtigkeit abzuhalten, die ihm langsam bis auf
die Haut drangen.
Schon seit Stunden stand er auf dem Achterdeck. Zweimal
hatte Angus versucht, ihn am Steuer abzulösen, doch Ethan
hatte abgelehnt. Lieber setzte er sich dem Wetter aus als sei-
ner leeren Kabine, in der er immer noch Grace' Gegenwart zu
spüren meinte. Er hatte ihr die Wahrheit gesagt. Nie zuvor war
er jemandem wie ihr begegnet - schon jetzt vermisste er sie
schmerzlich.
Es war einfach lächerlich! Sie war auch nur eine Frau. Hatte
er im Laufe der Jahre nicht Dutzende von Frauen gekannt?
„Ned kommt gleich hoch und übernimmt das Steuer", ver-
kündete der Erste Maat nun, der unbemerkt neben ihm aufge-
taucht war. Ethan wollte widersprechen, aber Angus zog ihn einfach mit
sich und nickte dem schlaksigen Ned zu, der nun das Steuer- rad übernahm.
„Ich weiß, woran Sie denken, Capt'n", meinte der alte Schot- te. „Sie ist ein klasse Mädchen. Vielleicht können Sie sie ja wie- dersehen, wenn Sie erst mal Ihren Frieden mit der Vergangen- heit gemacht haben."
Ethan schüttelte den Kopf. „Sie ist Jeffries' Tochter! Daran wird sich nie etwas ändern."
Angus seufzte. „Ich sage es ja nur ... ein klasse Mädchen." Gegen seinen Willen musste Ethan lächeln. „Ja, das stimmt."
Den Rest des Tages verschlief Grace, und erst spät am nächs- ten Morgen wachte sie auf. Und selbst dann fühlte sie sich im- mer noch bleischwer vor Müdigkeit. Am liebsten würde sie gar nicht aufstehen. Als Phoebe ihr auf einem Tablett heiße Scho- kolade und Toast mit Honig brachte, zwang Grace sich, etwas zu essen, obwohl sie nicht den geringsten Appetit hatte.
„Ich habe Ihre Sachen alle frisch
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