Martin, Kat - Perlen Serie
geglättet, Miss Grace. Heute könnten Sie das rosafarbene Kleid aus Merinowolle tra- gen. Darin sehen Sie immer besonders hübsch aus."
„Danke, Phoebe. Das klingt gut." Grace hatte einen ganzen Koffer schöner Kleider dabei. Ihre Mutter hatte immer Wert darauf gelegt, dass sie nach der neuesten Mode ausgestattet wurde, damit sie eine gute Partie machen würde.
Grace dachte an den großen Traum ihrer Mutter, sie an einen Aristokraten zu verheiraten. Und was war nun daraus gewor- den? Nicht einmal der jüngste Sohn eines Gutsbesitzers würde sie jetzt noch heiraten, wenn sich ihre Entführung erst einmal herumgesprochen hatte.
Von ihrer verlorenen Unschuld ganz zu schweigen!
Phoebe half ihr in das rosa Merinokleid mit der hochange- setzten Taille, und Grace schlüpfte in ein Paar passende Schu- he aus feinem, weichem Leder. Niedergeschlagen setzte sie sich vor den Spiegel und ließ sich von Phoebe das Haar flech- ten und zu einem Kranz aufstecken.
Danach machte Grace sich schweren Herzens auf den Weg in den Salon, um endlich mit ihrer Tante zu sprechen.
„Da bist du ja!" Tante Matilda kam auf sie zugeeilt. Sie war klein und kräftig, mit grauem Haar und rosigen Wangen. „Wie geht es dir denn, meine Liebe? Ich hoffe, du hast dich ein we- nig erholt."
„Danke, Tante Matilda. Es geht mir schon viel besser."
„Komm herein. Ich werde Parker gleich Tee bringen lassen." Grace folgte ihr in den Salon. Sie ahnte, dass ihre Tante viele Fragen haben würde, und wünschte sich, sie könnte sie beant- worten.
„Ich habe die Ereignisse in der Post verfolgt", bemerkte Tante Matilda, während sie auf zwei kleinen, schon ein we- nig abgenutzt aussehenden Gobelinsofas Platz nahmen, die ei- nander vor dem Kamin gegenüberstanden. Das Feuer brannte kräftig und warm und ließ die eisige Kälte des Februartages vergessen. „Über die Flucht deines Vaters wird zunehmend weniger berichtet, weshalb mir scheint, dass unser Plan funk- tioniert hat."
Nun, zumindest ein Teil des Planes, dachte Grace bitter und erinnerte sich an die Tage ihrer Entführung. „Ja, wenigstens dafür können wir dankbar sein."
Noch immer wusste Grace nicht, ob ihr Vater schuldig oder unschuldig war. Sie sah ihre Tante fragend an. „Glauben Sie, dass Lord Forsythe - ich meine, mein Vater -, dass er sein Land verraten haben könnte?"
„Natürlich nicht, meine Liebe. Wenn du ihn besser kennen würdest, wüsstest du, dass mein Harmon so etwas niemals tun würde. Wenn ich mich an die Zeiten erinnere, als ..."
Während der nächsten halben Stunde hörte sich Grace Ge- schichten aus der Kindheit ihres Vaters an. Sie erfuhr, wie sehr ihn der Tod seiner Eltern erschüttert hatte und wie ängstlich und eingeschüchtert er gewesen war, als er nach Humphrey Hall kam.
„Aber später wurde er dann Soldat. Mit neunzehn hat er sich bei der Armee gemeldet, obwohl ich und mein verstorbe- ner Mann Stanley - Gott hab' ihn selig - ihm das ausreden woll- ten. Nur war Harmon nicht davon abzubringen. Er glaubte, dass es seine Pflicht sei, der er gehorchen müsse."
Als sie nach dem Tee in das Speisezimmer hinübergingen, um einen Lunch einzunehmen, glaubte Grace, ihren Vater schon viel besser zu kennen. Zudem verspürte sie eine wach- sende Zuneigung für ihre Tante.
Im Laufe des Nachmittags brachte sie endlich den Mut auf, über Ethan zu sprechen. Allerdings waren die Worte, die auf einmal aus ihr heraussprudelten, nicht unbedingt das, was sie hatte sagen wollen.
„Der Captain glaubt, dass mein Vater schuldig ist. Er ist überzeugt davon, dass Harmon Jeffries ihn an die Franzosen verraten hat und damit für den Tod seiner Mannschaft verant- wortlich ist."
Sie erzählte ihrer Tante von Ethans Gefangenschaft in Frankreich, von den Qualen, die er dort erlitten hatte, und von den Narben, die ihm an Körper und Seele geblieben waren. Et- was in ihrer Stimme ließ ihre Tante aufhorchen.
„Dieser Captain ... er bedeutet dir viel, nicht wahr?"
Grace hob die Augen und sah ihre Tante an. „Ich habe mich in ihn verliebt, Tante Matilda. Ich weiß nicht, wie das gesche- hen konnte, aber so ist es. Und auch wenn ich ihn nie wiederse- he, so werde ich ihn doch nie vergessen."
„Oh, mein armes Mädchen!" Liebevoll nahm ihre Tante sie in ihre Arme, und Grace schluckte schwer. Tränen brannten in ihren Augen, und sie konnte ein leises Schluchzen nicht zu- rückhalten.
„Ist schon gut, meine Liebe. Manchmal passieren Dinge im Leben, über die wir keine Kontrolle haben.
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