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Marx fuer Eilige

Marx fuer Eilige

Titel: Marx fuer Eilige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Misik
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Arbeitnehmer die Zukunftsangst packt und sie nicht nur ihren Konsum einschränken, sondern zudem ihre Gelder aus den Pensionsfonds abziehen, die ihre Renditeversprechen ohnehin nicht mehr halten konnten, weshalb deutsche Bankhäuser dann ihre Wertpapierhändler entlassen müssen, was nur zum Teil damit zusammenhängt, daß der Euro gegenüber dem Dollar an Wert gewinnt, ein Umstand, der aber seinerseits wieder zur Folge hat, daß sich die Exporte der europäischen Industrie in die USA verteuern und die konjunkturelle Delle sich vertieft. Weil die Unternehmen weniger verdienen, müssen sie Arbeitsplätze abbauen und schalten folglich auch viel weniger Stellenannoncen in den großen Zeitungen, was wiederum dazu führt, daß bei der »Frank furter Rundschau«, der »FAZ« und bei der »Neuen Zürcher Zeitung« Journalisten entlassen werden, ein Sachverhalt, der den Artikeln ihrer verbliebenen Kollegen einen etwas deprimierten Ton verleiht und seinerseits wiederum das Investitionsklima nicht gerade verbessert. Hinzu kommen noch etwa siebenundzwanzigtausenddreihundert andere ökonomische und außerökonomische |90| Umstände, die uns hier aus Platz- und Zeitgründen nicht zu interessieren haben.
    Verstanden? Man könnte auch anders formulieren: Wenn in China ein Sack Reis umfällt, muß Herr Mustermann in Buxtehude eineinhalb Monate mehr Lebensarbeitszeit verrichten, da nun in den öffentlichen Rentenkassen ein finanzielles Loch klafft.
    Welch ein unergründbares Geheimnis umgibt die Ratio eines Systems, das aus der Kombination unzähliger Teilrationalitäten, aus quer-, schräg- und gegenläufigen Wechselwirkungen, Verhältnissen von Verhältnissen, ein enges Maschenwerk knüpft, das seine eigene Logik gebiert, in der die Subjekte sich verfangen. Brecht hat über nämlichen Sachverhalt Mitte der dreißiger Jahre folgendes zu berichten gehabt. »Für ein bestimmtes Theaterstück brauchte ich als Hintergrund die Weizenbörse Chicagos, ich dachte, durch einige Umfragen bei Spezialisten und Praktikern mir rasch die nötigen Kenntnisse verschaffen zu können. Die Sache kam anders. Niemand, weder einige bekannte Wirtschaftsschriftsteller noch Geschäftsleute – einem Makler, der an der Chicagoer Börse sein Leben lang gearbeitet hatte, reiste ich von Berlin bis nach Wien nach –, niemand konnte mir die Vorgänge an der Weizenbörse hinreichend erklären. Ich gewann den Eindruck, daß diese Vorgänge schlechthin unvernünftig waren. Die Art, wie das Getreide der Welt verteilt wurde, war schlechthin unbegreiflich. Von jedem Standpunkt aus, außer demjenigen einer Handvoll Spekulanten, war dieser Getreidemarkt ein einziger Sumpf. Das geplante Drama wurde nicht geschrieben, statt dessen begann ich Marx zu lesen.« 76
    |91| Und in seinem Stück »Die Heilige Johanna der Schlachthöfe« heißt es:
    Wehe! Ewig undurchsichtig
    Sind die ewigen Gesetze
    Der menschlichen Wirtschaft!
    Ohne Warnung
    Öffnet sich der Vulkan und verwüstet die Gegend! 77
    Die »menschliche Wirtschaft« – sie zerstört und baut auf, schafft Reichtum und Armut, ist raffiniert, streng rational und doch
ver-rückt
. Sie umgreift die globale Weltgesellschaft und spaltet sie gleichzeitig auf, sie zerreißt die Gemeinschaften und zerschneidet selbst die Individuen. Welch absurde und gleichzeitig erstaunliche Rationalitäten das Renditeprinzip zu produzieren imstande ist, zeigt sich exemplarisch am Beispiel der Rentenfonds, die zuletzt von Amerika aus die gesamte kapitalistische Welt eroberten. Wenn beispielsweise ein Stahlarbeiter in einen Pensionsfonds einzahlt, dieser dessen Beiträge an einen Investitionsfonds weiterreicht, welcher wiederum Anteile an seinem Stahlwerk kauft und zur Erhöhung der Rentabilität in der Folge Arbeitsplatzabbau oktroyiert, dann ist es im materiellen Interesse dieses Stahlarbeiters in seiner Rolle als künftiger Rentner, sich selbst zu entlassen. 78 Dieser Kapitalismus, der seinen schier unaufhaltsamen Siegeszug um die Welt angetreten hat, ist also voller Paradoxien, ist stabil und robust und doch prekär und anfällig für Störungen, schlägt Purzelbäume und dreht Pirouetten. Wie in einem wackeligen Mikadospiel bringt das Gleichgewicht durcheinander, wer an einer Stelle der |92| Struktur zu heftig zieht. Was, wenn unser Stahlarbeiter sich mit anderen Stahlarbeitern zusammentäte, die ihrerseits Anteile an besagtem Rentenfonds halten, und mit diesen gemeinsam den Kapitalverwaltern auftragen würde, das Renditeprinzip nicht mehr

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