Marx fuer Eilige
allzu streng im Auge zu haben? Er würde auch nicht froh, sondern nur eine rasante Dynamik der Kapitalvernichtung in Gang setzen: Sein Stahlwerk wäre, würde es nicht zu Rationalisierungen gezwungen, in der kapitalistischen Konkurrenz bald hoffnungslos unterlegen, sein Arbeitsplatz wäre hochgradig gefährdet, und seine Ersparnisse wären schnell nur mehr die Hälfte wert – bestenfalls. Wir sehen also, das Kapitalverhältnis unterwirft alle seinem stummen Zwang: die Arbeitnehmer ebenso wie die Kapitalbesitzer, die großen Magnaten nicht weniger als die kleinen Leute. Und was für die Welt der Ökonomie im engen, gilt auch für die gesellschaftliche Struktur in weiterem Sinn. Recht plump wäre es, sich moderne Gesellschaften mit Hinweis auf eine duale Scheidung in souveräne Herrschaft und ohnmächtige Unterklassen vorzustellen. Die gesamte moderne Sozialwissenschaft – vom eher linken Strukturalismus eines Michel Foucault bis hin zur aktuellen Systemtheorie, die sich mit dem Bestehenden gerne abfindet – trägt diesem Sachverhalt Rechnung. Ist für erstere Macht vor allem ein Maschenwerk mit Machtknoten, die ihrerseits von anderen Machtknoten in Schach gehalten werden, 79 ist für zweitere der Eingriff der Subjekte – auch für die »Mächtigsten« – in ein derart raffiniert konstruiertes System nicht mehr denkbar und schon gar nicht wünschenswert. Das Beste, wozu Politik aus solcher Perspektive noch fähig ist, ist »prinzipienloses Lavieren«, |93| das »Verhüten des jeweils Schlimmsten« 80 , meint dementsprechend der jüngst verstorbene deutsche Sozialwissenschaftler Niklas Luhmann, da jeder Eingriff in den Selbstlauf des Systems eine unbekannte Zahl nichtintendierter Folgen zeitigen würde, die ihrerseits nur zur Ursache neuer Probleme würden. Ein rationaler Eingriff in die Ratio dieses raffinierten Maschenwerkes wäre also nur möglich, könnte das »politische System« – also die Kaste der professionellen Staatenlenker – mehr Umweltdaten berücksichtigen, »als es berücksichtigen kann« 81 . Da dies schon längst nicht mehr möglich ist, bricht sich die Macht der Mächtigen am Eigensinn des Systems – sie sollen, um ja nicht Schlimmeres anzurichten, darum die Finger davon lassen. Selbstredend gilt das erst recht für die Macht der Schwachen.
Paradoxerweiser hat eine solche Sozialwissenschaft Marx viel zu verdanken – obwohl dem doch die Macht der Schwachen derart am Herzen lag. Wenn wir uns hier nun den ökonomischen Analysen widmen, die das Werk des »reifen« Marx dominieren – wobei wir es, dies soll nicht vergessen werden, mit einem Mann in seinen späten Dreißigern, frühen Vierzigern zu tun haben –, so wollen wir erst einmal daran erinnern, wie Marx zum Ökonomen wurde. »Mein Fachstudium war das der Jurisprudenz, die ich jedoch nur als untergeordnete Disziplin neben Philosophie und Geschichte betrieb«, schreibt er im berühmten Vorwort zu seiner »Kritik der politischen Ökonomie«, die, 1859 erschienen, eine etwas langatmige Kritik der bisherigen ökonomischen Theorien liefert und eine der Vorstudien zum »Kapital« darstellt. »Im Jahr 1842/43, als |94| Redakteur der ›Rheinischen Zeitung‹, kam ich zuerst in die Verlegenheit, über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen. Die Verhandlungen des Rheinischen Landtags über Holzdiebstahl und Parzellierung des Grundeigentums, … Debatten endlich über Freihandel und Schutzzoll, gaben die ersten Anlässe zu meiner Beschäftigung mit ökonomischen Fragen.« (MEAW 2, S. 501 f.) Marx hatte sich der Ökonomie als Philosoph gestellt und in den
Pariser Manuskripten
, wie wir gesehen haben, den kapitalistischen Welt-Raum entwickelt als von Menschen geschaffene Ding- und Sachenwelt, die als entäußerte Welt den Menschen als fremde Macht gegenübertritt. Er fragte, wenn er sich einem ökonomischen Sachverhalt stellte, nicht in der hermetischen Begrifflichkeit ökonomischer Zwangsläufigkeit, sondern trat gewissermaßen einen Schritt zurück: Welche Handlungen von Menschen sind es, die diese Zwangsläufigkeit erst herstellen, lautete sinngemäß seine stetige Frage. Dieses Prinzip wird Marx beibehalten, auch wenn er, dem Geist der Zeit entsprechend, streng wissenschaftlich die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise zu analysieren versucht. Und strenge Wissenschaftlichkeit hieß in einer Zeit, in der das Publikum betört war von den Fortschritten der physikalischen und chemischen Forschungen, sich an den Methoden
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