Marx fuer Eilige
der Naturwissenschaft zu orientieren. Marx konnte sich dem Bann dieses Zeitgeistes nicht entziehen und hat so sein Denken, wie Antonio Gramsci schrieb, da und dort »durch positivistische und naturalistische Zusätze entweiht« 82 . Wie wir noch sehen werden, rühren die meisten der Irrtümer und Mißverständnisse, die sich im »Kapital« finden, aus solchen positivistischen Zuspitzungen. |95| Dabei wußte Marx natürlich, daß die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft sich nicht den Methoden der Naturwissenschaft unterwerfen kann. »Bei der Analyse der ökonomischen Formen«, schreibt er im Vorwort zur ersten Auflage des »Kapital«, »kann … weder das Mikroskop dienen noch chemische Reagentien. Die Abstraktionskraft muß beide ersetzen.« (MEW 23, S. 12)
Marx blieb bei der Analyse der Ökonomie
Philosoph
. Dies beweist nicht nur die Gedankenbewegung des »Kapital« und seiner Vorstudien, sondern auch der Umstand, daß er eine kleine Ewigkeit brauchte, um sie zu vollenden. Seine ökonomischen Studien hat er Anfang der fünfziger Jahre begonnen und erst 1867 den ersten Band des »Kapital« fertigstellen können. Und zwar nicht nur, weil er kistenweise Material sammelte und Tag um Tag, Jahr um Jahr, im British Museum über immer neuen Statistiken, immer detaillierteren Berichten brütete, und auch nicht zuvorderst deshalb, weil er sich mit allerlei polemischen oder revolutionären Aktivitäten ablenkte – es war ihm schlicht auch eine Qual, die Komplexität der so raffinierten, multikausal bewegten ökonomischen Realität soweit zu reduzieren, daß seine Analyse zwischen zwei Buchdeckel paßte und für die Leser – wenn auch für solche, »die etwas Neues lernen, also auch selbst denken wollen« (MEW 23, S. 12) – verständlich blieb. Ein erster Versuch endete 1858 in eng beschriebenen Manuskriptblättern, die in gedruckter Form knapp tausend Seiten umfaßten und jeden Leser, der in der Marxschen Denkbewegung nicht geschult war – und das waren zu dieser Zeit wohl mit Ausnahme von Friedrich Engels nahezu alle – hoffnungslos überfordert hätten. Marx legte sie |96| alsbald zur Seite. Dennoch – oder gerade deswegen – zeigt sich in diesem Kompendium, das Ende der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts in Moskau unter dem Titel »Grund risse der Kritik der politischen Ökonomie« veröffentlicht wurde, der Marxsche Gedankengang reiner als später im »Kapital«: Seine Schwäche ist auch seine Stärke, ist es doch noch frei von Simplifizierungen, wie sie sich in der »populäreren« Durcharbeitung zwangsläufig finden.
Nichtsdestoweniger blieben die Zugeständnisse ans Populäre freilich auch später gering. »Wirklich populär können
wissenschaftliche
Versuche zur Revolutionierung einer Wissenschaft niemals sein«, heißt es in einem Brief von Marx an seinen Freund Kugelmann Ende 1862. 83 Wie die »Grundrisse« ist das »Kapital« keine Anklage gegen die Kapitalisten, sondern eine Analyse des Kapitalprinzips. Bereits im Vorwort des »Kapital« stellt Marx »zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse« fest: »Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.« (MEW 23, S. 16) Das Kapitalverhältnis hat sich längst zur subjektlosen Macht über die Subjekte aufgeschwungen und gerade deshalb die relative Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft begründet, weil es personaler Macht nicht |97| mehr bedarf. »Raubt der Sache diese gesellschaftliche Macht und ihr müßt sie Personen über Personen geben«, proklamierte Marx bereits in den »Grundrissen«, in der bürgerlichen Gesellschaft ist »persönliche Unabhängigkeit auf
sachlicher
Abhängigkeit gegründet«. 84 Und seinen Freund Kugelmann klärt er in einem Brief darüber auf, »daß der einzelne Fabrikant … nicht viel in der Sache tun kann«. Welches immer die empirischen Resultate der kapitalistischen Verhältnisse seien, »im großen und ganzen hängt dies … nicht vom guten oder bösen Willen des einzelnen Kapitalisten ab« 85 . Als
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