Marx fuer Eilige
der revolutionären Kräfte investiert, was ja ziemlich nutzlos wäre, käme die Revolution von selbst – wäre dies so, würde diese Aktivität etwa so sinnvoll sein wie die Gründung einer Partei zur Herbeiführung der nächsten Sonnenfinsternis. Aber Marx war durchdrungen vom Fortschrittsglauben der Moderne und hat damit genügend widersprüchliche und irreführende Gedankenbruchstücke hinterlassen, die es manchen seiner späteren Schüler erlaubten, seiner Lehre eine »deterministische, fatalistische, mechanistische« Schlagseite zu verleihen, wie es Antonio Gramsci ausdrückte. Gramsci hat sein Leben lang gegen diese Simplifizierungen angeschrieben, ebenso wie der französische Marxist Louis Althusser, der fragte: »Wie könnte man, theoretisch, die Gültigkeit der fundamentalen marxistischen Lehre aufrechterhalten, daß
› der Klassenkampf der Motor der Geschichte
‹ ist, d. h. theoretisch aufrechterhalten, daß es durch den
politischen
Kampf möglich ist, die
› existierende Einheit zu zerspalten
‹, wenn wir bestimmt wissen, daß nicht die Politik, sondern die Ökonomie in letzter Instanz determinierend ist?« 49
|73| Tatsächlich hat aber wohl nicht zuvorderst theoretische Ungenauigkeit, sondern simple menschliche Schwäche diese Schieflage noch verstärkt. Dieser Determinismus, erkannte Gramsci, hatte doch einen Sinn: war er doch »hi storisch notwendig geworden und gerechtfertigt durch den ›subalternen‹ Charakter bestimmter gesellschaftlicher Schichten. Wenn man nicht die Initiative im Kampf hat und der Kampf selbst folglich am Ende mit einer Reihe von Niederlagen identifiziert wird, dann wird der mechanische Determinismus zu einer erstaunlichen Kraft moralischen Widerstands … ›Ich bin momentan besiegt, aber die Macht der Dinge arbeitet langfristig für mich usw.‹« 50 So war diese Zukunftsgewißheit eine Verirrung, eine besonders betörende noch dazu, weil kraftspendend: Mochten die unteren Klassen auch erniedrigt und beleidigt sein, kujoniert und einflußlos, verfolgt, sobald sie den Kopf hochreckten – ihre Angehörigen konnten sich immer aufs neue versichern, die Zukunft wäre die ihre; eine ungeheure, unerschöpfliche Quelle moralischer Erbauung, aus der die »gewaltigsten Impulse zur praktischen Initiative« entspringen, die sich, so Gramsci, in die »äußerste Anspannung des kollektiven Willens« zu verwandeln vermag. 51 Marx hätte das übrigens nicht viel anders gesehen. Wenige Jahre vor seinem Tod formulierte er in einem Brief: »Der Traum vom nah bevorstehenden Untergang der Welt feuerte die primitiven Christen an in ihrem Kampf gegen das römische Weltreich und gab ihnen Siegesgewißheit.« 52
Heute ist bei Linken aller Couleur diese Siegeszuversicht verlorengegangen. Geblieben freilich ist, wie eingangs gezeigt, die objektivistische Schlagseite, die Aversion |74| gegen moralische Beweggründe, gegen Flausen im Kopf und bei manchen auch eine gewisse postbolschewistische Schneidigkeit, mit der noch die – um zurückhaltend zu formulieren: unsympathischeren – Resultate der kapitalistischen Globalisierung als Preis des Fortschritts verbucht werden, der eben zu bezahlen ist – mit einem leisen Achselzucken allenfalls. Der historische Materialismus behauptete in seinem Kern, es lohne sich nur für das einzutreten, was sich im Horizont des Möglichen bewege, wohingegen alles Wünschen nichts helfe, wenn die Wirklichkeit in eine andere Richtung dränge. Dies ist wohl so richtig wie einst – aber wer sich beispielsweise für eine gerechtere Gesellschaft oder für einen schonenderen Umgang mit der Natur einsetzen will, mußte zur Kenntnis nehmen, daß keine geheimen Kräfte in der Geschichte ihm die Arbeit abnehmen. Die Welt wird sich nur in eine andere Richtung entwickeln – wenn sie das denn überhaupt sollte –, so sich vernunftbegabte, mit einem freien Willen ausgestattete, moralische Individuen dafür einsetzen.
Der amerikanische Sozialphilosoph Gerald A. Cohen hat in einem jüngst auf deutsch erschienen Büchlein den Finger genau auf diese offene Wunde gelegt. Cohen, ein Veteran der alten US-amerikanischen Linken, war sein halbes Leben der These angehangen, die er inzwischen für den Grundirrtum des Marxismus hält: »Der Kapitalismus wird, mit ein bißchen Hilfe von den Freunden des Sozialismus, den Sozialismus selbst hervorbringen.« 53 Nun aber habe er, wie er schreibt, »zu einer moralischen Auffassung übergewechselt«. Heute plädiert er dafür, »sich von Idealen
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