Marx, my Love
schrecklich, aber da ihn alle anderen zum Kultfilm erklärten, hat sie ihre Meinung nie veröffentlicht. Andererseits ist Anna niemand, vor dem man sich schämen müsste. »Nicht wirklich. Mir war die Liebesgeschichte zu abgedreht. Aber was hat die Stark damit zu tun? Oder Harry Loos?«
»Nichts«, sagt Anna. »Ist mir nur so eingefallen.« Sie trinkt den Kaffee, der mittlerweile kalt ist, und sieht auf die Uhr. In einer halben Stunde ist der Film zu Ende, den Harry sich ansieht. Matrix, das Œuvre könnte ihn inspirieren. Anna findet keinen Geschmack an Männern mit kleinen schwarzen Sonnenbrillen. Und sie ist es leid, mit ihren großen schwarzen Augenbedeckern herumzulaufen und lustige Geschichten über Veilchen zu erfinden.
»Du wirst depressiv. Du brauchst einen Mann«, sagt Sibylle, bevor sie zu dem Gast entschwindet, der seit einigen Minuten mit einem Geldschein wedelt.
Männer machen depressiv, denkt Anna. Manchmal, für eine kurze Zeit, bewirken sie auch das Gegenteil. Sie ist geneigt, die Ehe als lange, schleichende Depression zu sehen oder auch die unheilbare Sucht, in einem anderen das zu finden, was man an sich selbst vermisst. Die These bleibt im Marx’schen Sinne unbewiesen. Wenn in fünfzig Jahren niemand gefragt hat, wird es keiner mehr tun. Letzte Nacht war sie glücklich für ein paar Stunden. Das zählt. Dafür darf man mit Scham bezahlen. Sie bringt es nicht fertig, Sibylle davon zu erzählen.
Wie mag das bei Leuten vom Schlag Rosis sein? Lässt sich Scham abschalten wie ein Fernsehprogramm? Verliert sie sich in den Notwendigkeiten, das Spiel um Macht und Geld nach dessen Regeln zu spielen? Anna ist nicht moralisch entrüstet, eher neugierig. Wie schafft man es, sein Gewissen einzuschläfern?
Der Klingelton ruft lokale Unruhe hervor. Sibylle hat schon einmal erwogen, den Gebrauch von Handys zu verbieten, ist aber bei einigen Stammkunden auf vehementen Protest gestoßen. Einige tasten nach ihren Geräten, andere sehen sich suchend um. Es ist Annas Handy, sie findet es erstaunlich schnell in den Tiefen der Handtasche und drückt auf die richtige, die grüne Taste.
Die Stimme der Produzentin klingt noch verbindlich. Sie fragt nach Ergebnissen, immerhin seien zwei Tage vergangen, für die sie mit ihrem guten Geld bezahlt. Das Wort »gut« löst bei Anna eine Art Kichern aus. »Sind Sie betrunken?«, fragt ihre Auftraggeberin. »Doch nicht am frühen Nachmittag«, erwidert Anna und weicht dann aus. Ein paar Spuren, die sie verfolge, aber sie brauche mehr Zeit für konkrete Ergebnisse. Blablabla.
»Sie wollen mehr Honorar herausschinden.« Rosi Stark ändert die Tonlage: »Und wo waren Sie, als der Verrückte mein Büro mit Pflastersteinen bombardierte? Was kommt als Nächstes? Sprengstoff? Sie hätten ihn zumindest festhalten können, bis die Polizei kam. Sie enttäuschen mich, Anna Marx.« Der letzte Satz war weich im Ton; Peitsche und Zuckerbrot, Anna kennt das Spiel und ist ihm doch nie gewachsen.
»Ich habe seine Wohnung durchsucht und keinen Sprengstoff gefunden. Nichts, nur ein bisschen Haschisch.« Judas! Anna fügt schnell hinzu: »Aber die Menge ist nicht ausreichend, um ihn zu kriegen.«
»Dann legen Sie noch was dazu. Ich will den Kerl jetzt.« Mit diesen Worten legt die Produzentin auf. Damit hat sie gewonnen, denn am anderen Ende der toten Leitung sitzt eine schuldbewusste Detektivin. Jenseits der Frage, ob Harry betrogen wurde, hat sie einen Auftrag angenommen, und die Stark hat Recht, wenn sie ihr Vorwürfe macht. Und Unrecht, wenn sie glaubt, dass Anna ihm Haschisch unterjubeln und ihn dann ans Messer liefern würde. Das Richtige zu tun, wird zu einer schwierigen, fast moralischen Frage. Das Beste wäre, den Auftrag niederzulegen. Drei Tage abzurechnen und Rosamunde den Rest zurückzugeben. Tut auch weh, aber es wäre eine Lösung, mit der sie leben könnte. Das Finanzamt vielleicht nicht, aber kann man einer nackten Frau in die Tasche greifen? Sie könnten den alten Jaguar pfänden, der abgemeldet ist und in einer Garage Spinnweben ansetzt. Das Auto ist ihr zu teuer geworden, aber trennen mag sie sich auch nicht von ihm. Einer der zahllosen Widersprüche ihrer Existenz – und sie kann damit leben. Zumindest noch ein paar Tage…
Der Kaffee ist kalt, und Anna legt einen Zehn-Euro-Schein auf den Tisch. Sie winkt Sibylle zu, bevor sie das Lokal verlässt. Irgendwann, an einem der langen Abende, an denen sie nicht aufhören können zu trinken und zu reden, wird sie ihr von
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