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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Grän
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Rafael erzählen. Wer, wenn nicht Sibylle, hätte Verständnis dafür, dass Sex und Vernunft einander ausschließen?
    Besser, ein Zehntel von etwas zu haben als hundert Prozent von gar nichts. Ein Zehntel Rafael…
    Sie denkt an ihn, während sie in den Bus steigt, der zum Filmpalast fährt. Anna hat ihm ihre Handynummer mit Lippenstift auf sein weißes T-Shirt geschrieben, das im Bad lag. Das kann er jetzt wegwerfen. Der Stift ist so rot wie ihre Haare. Sie trägt sie immer noch lang, aber zu einem Zopf gebunden. Slawische Bäuerin, gut im Fleisch, und als Kind war ihr Spitzname Speckschwarte. So etwas vergisst man nicht, nie.
    Die Kinder, die den Bus mit ihr teilen und mit ihren Schulranzen die Sitze blockieren, scheinen ihre Verletzungen sehr nach innen zu tragen. Sie sind laut und geben sich selbstbewusst, und den Alten begegnen sie mit Verachtung, bestenfalls Missachtung. Bauchfrei ist die Uniform der Mädchen, und sie entblößen viel weißes Fleisch, während die Jungs mit Baseballmützen und schlabbernden Hosen zu einem pubertären Typus verschmelzen. Die Gesellschaft der Gleichen, in der Anna eine Aussätzige ist. Gab es jemals Respekt vor den Alten, oder war es immer nur Furcht? Egal, man muss die Brut nicht mögen, sofern es nicht die eigene ist, und mit Erleichterung steigt sie aus.
    Anna wartet auf Harry, der Matrix gesehen hat, und sie steht am Ausgang, ein wenig verdeckt von einer Säule, und späht durch die Brille, als ihr Handy klingelt. Der Reflex ist bekannt: Die Umstehenden greifen nach ihren Geräten, erstarren in der Bewegung, als sie merken, dass sie nicht gemeint sind. Anna hat den Nullachtfünfzehn-Klingelton, und als sie ihn wegdrückt, hört sie Rafaels Stimme. Er hat das T-Shirt nicht weggeworfen.
    Was hat sie erwartet? Danksagung, Liebeserklärung? Er klingt gehetzt, ist auf dem Weg zur Arbeit und fragt sie übergangslos, ob sie seine Pistole mitgenommen habe, während er schlief?
    »Welche Pistole?«
    »Die in meiner Schublade, Anna. Ich frag ja nur, vielleicht sammelst du Pistolen wie alte Häuser. Oder wolltest sie ausleihen, um deine Katze zu erschrecken.«
    »Ich hab keine Katze. Hast du einen Waffenschein?«
    »Nein. Aber ich mache mir Sorgen. Wenn Harry mit einer Waffe durch die Gegend läuft…«
    Er hat das Stichwort gegeben. Harry, mit oder ohne Pistole, strebt dem Ausgang zu. Anna kann keine Ausbuchtung unter seiner dünnen Jacke erkennen. »Ich muss jetzt Schluss machen. Ich ruf später zurück.«
    »Nicht vor Mitternacht«, sagt Rafael noch, aber Anna hat ihr Handy schon in die Tasche gleiten lassen und folgt Harry über die Straße. Er geht grundsätzlich bei roter Fußgängerampel oder quer durch den Verkehr. Die Revolution hat nicht stattgefunden, und man muss sie in winzigen Gesten zelebrieren. Dass er jetzt gegen einen parkenden Porsche tritt, missfällt ihr allerdings. Das Auto kann nichts dafür, und es kann sich seine Fahrer nicht aussuchen. Doch Harrys Wut braucht ein Ventil. Und er hat eine Pistole. Wer sonst sollte sie aus der Schublade genommen haben, nachdem Anna das Haus verlassen hatte?
    Anna hetzt hinter Harry her und hofft, dass die Autos sie verschonen. Sie hupen nur, und einer zeigt ihr den Vogel… Anna antwortet mit dem gestreckten Mittelfinger, das hier ist Berlin, und man tauscht auf der Straße keine Höflichkeiten aus. So vertieft ist sie in ihr Tun, dass sie nicht merkt, dass Harry stehen geblieben ist. Vor einem Juwelierladen, und beinahe wäre sie in ihn hineingerannt. Sie stoppt einen halben Meter vor ihm, er ist in das Schaufenster vertieft. Ein schmaler Rücken, und er ist ein wenig gebeugt. Er sollte sich öfter die Haare waschen und sie nicht rätseln lassen, was er jetzt wieder vorhat. Sie muss in jedem Fall weitergehen und einen Hauseingang finden, um auf ihn zu warten.
    Als Kind wollte sie nie zu den Pfadfindern, gibt es die heute überhaupt noch? Vielleicht als Computerspiel. Anna hat ein passendes Versteck gefunden, nur leider ruht sich hier schon ein Penner von der Mühsal des Tages aus. Er sieht sie nur an, und ihr Auge beginnt zu jucken. Anna geht rückwärts, stolpert über die Bordsteinkante – und wird von Harry Loos aufgefangen.
    »Hoppla«, sagt er und lächelt sie an. Arglos. Anna bedankt sich, befreit sich hastig und beschließt in diesem Augenblick, aus dem Auftrag auszusteigen. Die Füße tun ihr weh, das kommt hinzu, sie hätte diese neuen Schuhe nicht kaufen sollen, sie waren teuer und sind unbequem. Ein typischer Fall von

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