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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Grän
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so viel sie will. Sich nicht die Beine rasieren. Ungeschminkt herumlaufen. Trinken. Essen. Mit vollem Mund Selbstgespräche führen. Masturbieren. Sich sündhaft teure Schuhe kaufen, die sie nicht anzieht, weil sie darin nicht laufen kann. Abends bei Sibylle sitzen und sich voll laufen lassen, bis sie sich einen schön getrunken hat und ihn mitnimmt für eine Nacht. All das kann sie und noch viel mehr. Das Leben ist schön. Und das ist eigentlich traurig.
    Anna tippt das Beschattungsprotokoll aus ihrem Notizbuch in den Computer. Der Russe ist verstummt, er schont seine Stimme für die polnischen Frauen. In die Stille, diese lärmende Stille einer schlecht isolierten Wohnung mitten in Berlin, klingelt das Handy. Als sie seine Stimme hört, zieht sie unwillkürlich den Bauch ein.
    »Woran arbeitest du gerade?«, fragt Rafael.
    »An meinem Teint.« Wer nicht blond und schön ist, sollte zumindest witzig erscheinen. In der Schule wurde sie als »fetter Clown« geschätzt. Hat sie sich in dieser Rolle je gemocht? Man nimmt, was man kriegen kann, und das gilt auch für die absurdeste Spezies auf Erden: Männer.
    Rafael lacht ein wenig, um sie zu erheitern, und fragt dann, ob er für sie kochen könne. Weil er doch in die Frühschicht gewechselt sei und abends Zeit habe.
    »Geht der Geschlechtsverkehr nicht auch ohne Essen?« Der Gedanke ist ihr über ihre Zunge gerutscht, bevor sie ihn kontrollieren und unter unsagbar abspeichern konnte. Warum fragt er sie überhaupt? Mag er nicht mit Gleichaltrigen spielen?
    Wenn sie ihn schockiert hat, hört man es seiner Stimme nicht an. »Du bist nicht fett, Anna, nur schön rund. Sagt Lily übrigens auch.«
    Lily wer? Die Hausgenossin, jetzt fällt es ihr ein. Sie hat sie nie zu Gesicht bekommen. »Okay, ich bin schlicht und schön rund. Kann Lily durch Wände sehen?«
    »Das Haus ist voller Spione. Kleine Gucklöcher. Ein Relikt aus den Tagen der Diktatur des Proletariats. Und Lily beobachtet gern. Sie meint, dass sie sich dann nicht so allein fühlt. Vielleicht ist sie eine… wie heißt das Wort…?«
    »Voyeurin.« Anna ist nicht prüde. Nur altmodisch bisweilen, und Gruppensex lehnt sie ebenso ab wie Peepshows. Der Gedanke, dass Lily ihr und Rafael zugesehen hat, ist zumindest befremdlich. Sie lag unten. Viel kann Lily von ihr nicht gesehen haben. Nur Rafaels perfekte Rückenansicht. »Hättest du mich nicht warnen können?«
    »Ich hab es vergessen, Anna. Ich war so… es stört dich doch nicht, oder?«
    Wollust ist eine wundervolle Todsünde. Ein viel schöneres Wort als »geil«. Sie vermutet, dass dies das Wort war, das er unterdrückte. Gut für ihn. »Doch, ein bisschen schon. Ich halte Sex für etwas sehr Privates, ebenso wie die Benutzung einer Toilette oder das Schneiden von Zehennägeln. Und wenn wir schon dabei sind: Ein One-Night-Stand ist eine angemessene Form der Kommunikation. Aber man sollte sich gut überlegen, ob ein Zuschlag vonnöten ist. Besonders in unserem Fall.«
    »Warum?«
    »Warum« ist ein Anna-Wort. Er sollte sie nicht nachäffen. »Weil ich schätzungsweise fünfzehn Jahre älter bin, deshalb.« Das war eine schlampige Schätzung. Die Wahrheit ist gut, aber ohne Lügen würde die Zivilisation zugrunde gehen. Anna hat immer gern gelogen, wenn es eigentlich um gar nichts ging.
    »Na und? Sei nicht so spießig, Anna. Wir haben Spaß aneinander. Daran kann doch nichts verkehrt sein.«
    Es war nicht unbedingt das, was sie hören wollte. Frauen sind so schrecklich romantisch, und wenn sie das Gegenteil hervorkehren, glauben die dummen Männer auch noch daran. »Was gibt es zu essen?«
    »Kartoffelpüree und Kaviar. Ich hab ihn aus meinem Laden billig abgestaubt. Iranischer Kaviar, was sagst du?«
    »Geklaut?«
    »Nein. Sie müssen das Zeug wegen des Verfallsdatums loswerden. Die Gäste essen nicht mehr so viel Kaviar. Außer Rosi Stark. Sie bestellt praktisch nichts anderes. Sie ist überzeugt davon, dass Kaviar dünn macht. Wäre das ein Argument, das dich überzeugt?«
    Die Erwähnung dieses Namens löst einen kurzen Moment der Panik aus. Aber nein, es muss ein Zufall sein. Die Produzentin verkehrt in Nobellokalen am Gendarmenmarkt, und Rafael kellnert dort. Berlin ist ein Dorf, das von einem Friseur regiert wird, der dem Kanzler nicht die Haare färbt. Und sie wird mit Rafael Kaviar essen, wenig trinken und danach verschwinden. »Wann?«
    »So gegen acht. Ich freu mich auf dich.«
    Sie kann nichts Nettes mehr sagen, denn er hat aufgelegt. So schnell,

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