Marx, my Love
eine Drohung, die besagt, dass es in diesem Haus niemand unbeobachtet treiben kann. Und jetzt weiß Anna auch, wo sie dieses einzigartige Gesicht schon einmal gesehen hat: an der Bushaltestelle im Regen. Als sie das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Es war Lily, deren Blicke durchbohren und töten, während ihr sanft geschwungener, perfekter Mund lächelt.
»Ich werde nicht so lange bleiben. Das Haus ist irgendwie… spooky. Man fühlt sich von Kobolden umgeben, die alles zu sehen scheinen.« Anna wendet sich nach diesem Satz zufrieden ab und öffnet die Küchentür. Das Schattenboxen endet unentschieden, aber Lily muss doch das letzte Wort haben.
»Du passt nicht in dieses Haus«, sagt sie, bevor sie verschwindet. Durch einen geheimen Gang, wie Anna vermutet. Lily ist entweder sagenhaft schlecht erzogen oder einfach verrückt. Die dritte Möglichkeit wäre, dass sie eine Rolle spielt, die Anna nicht kennt. Aber nun, an der Schwelle der Küche, konzentriert sie ihre Aufmerksamkeit auf Rafael. Er steht am Herd und rührt in einem Topf, dessen Dünste Unmengen von Knoblauch vermuten lassen.
»Vampire?« Anna holt die Vodkaflasche aus ihrer Tasche und stellt sie auf den gedeckten Küchentisch. Er hat Blumen besorgt und weiße Servietten auf die angeschlagenen Teller gelegt. Anna ist gerührt und verflucht dieses Gefühl. Von schönen Gesten war sie immer schon leicht zu beeindrucken. Sie bedeuten nichts.
»Lily wollte eigentlich schon weg sein. Ich freu mich, dass du da bist.« Er küsst Anna auf den Hals und nimmt die Vodkaflasche, um sie in den Kühlschrank zu stellen.
»Sie ist reizend«, murmelt Anna, »und die Tischdekoration auch.« Sie greift nach dem Weinglas, das er ihr brachte. Sie hat sich vorgenommen, sehr wenig zu trinken, aber jetzt ist sie durstig und ein bisschen verlegen. Es ist lächerlich, aber in manchen Situationen fühlt sie sich wie ein junges Mädchen beim ersten Rendezvous. Heute heißt es date, die Sprache verliert eindeutig an Eleganz. Und ihr Kleid, passend zu den Schuhen, hat zu viel davon. Rafael trägt Jeans und ein weißes T-Shirt. Vermutlich nicht jenes, das sie mit Lippenstift beschmiert hatte.
Er liest ihre Gedanken: »Du siehst schön aus. Ich mag Kleider. Magst du Knoblauch?«
»Ich bin überwältigt von Knoblauch. Wir werden stinken wie die Schweine.«
»Ja, aber noch riechst du verführerisch.«
Gesten und Worte, die berühren. Dieses Spiel, sie sollte es langsam kennen und als das einschätzen, was es ist: Verführungskunst, durch die sich kein Anspruch auf Dauer erheben lässt. Nach jedem Mal schwor sie sich, klüger zu werden, und nichts dergleichen geschah.
Er umarmt sie von hinten, und die Küsse auf ihren Nacken lösen dieses dumme Gefühl aus, das gewissermaßen willenlos macht. Ihr Leben erscheint ihr als eine endlose Serie von guten Vorsätzen und schlechtem Durchhaltevermögen. Wollust, Trägheit, Gier, Lüge… Annas Sündenregister ist so lang, dass ihr Austritt aus der Kirche nur konsequent war. Sie tat es nicht, um Kirchensteuer zu sparen, denn Geiz ist ihr fremd.
»Ich habe Hunger«, sagt sie, und er lässt von ihr ab und serviert die Suppe, formvollendet und ein bisschen ironisch in der Art von Kellnern, die wissen, dass sie gut sind, und das Devote leicht übertreiben, um den Gast zu demütigen. Die Suppe schmeckt sehr viel besser, als sie riecht, und sie isst zu viel Brot dazu. Immer hübsch bescheiden und zurückhaltend, der Mutterspruch ist auf harte Erde gefallen und hat nie Früchte getragen.
Beim Kaviar mit Verfallsdatum wechseln sie von Wein zu Vodka. Anna erzählt von ihrer Zeit in der Bonner Redaktion und versucht, witzig zu sein. Die Frau von Welt, sorglos und mit geblähten Segeln im Meer des Zeitgeists, ist eine Frau, die ihr ziemlich fremd ist, sich aber gut darstellen lässt. Anna spielt Sibylle, die in einer Mischung aus gutem Kumpel und fatalem Vamp so erfolgreich bei Männern ist. Anna redet zu viel und versucht ihn mit Geist und Witz zu umgarnen und zum Lächeln zu bringen. Sein Grinsen ist jungenhaft, und in diesem faltenlosen Gesicht steht noch nichts von Enttäuschung oder Verzweiflung geschrieben. Sie beneidet ihn um nichts, nur um seine Jugend. Das, was in seinem Leben noch sein kann und in ihrem schon geschehen ist – oder eben nicht.
Sex oder kein Sex ist die Frage, die hinter allen Worten steht, die sie austauschen. Anna denkt an Lily, und Rafael an das ungemachte Bett, das ihm peinlich ist. Er erwägt den Küchentisch,
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