Marx, my Love
was sie verdiente. Und dann hat er sich hingesetzt und geweint. Genau genommen weint er immer noch, ganz leise und unheimlich. Wir trinken den Rest deines Vodkas. Ich weiß nicht so recht, was ich tun soll.«
Und darum rufst du Mama an, denkt Anna. Sie setzt sich auf die Pflastersteine und schaut in den Sternenlosen Himmel. Einmal, in Afrika, hat sie eine ganze Nacht lang draußen gesessen und Sterne gezählt. Sie kam sich so klein vor. Anna hat keine Antworten, nur Fragen. Manchmal kommt ihr das ganze Leben wie ein großes Fragezeichen vor. »Ich weiß auch nicht. Sag ihm, er soll schlafen gehen, früh aufstehen und sich ein Alibi besorgen. Die Polizei wird ihn vernehmen, da bin ich ganz sicher. Er gehört nun mal zum Kreis der Verdächtigen.«
»Lily kommt«, sagt Rafael, und er klingt erleichtert. »Sie folgt ihm manchmal, vielleicht kann sie ihm ja ein Alibi geben.«
Er legt auf, bevor Anna etwas sagen kann. Das hätte sie schon interessiert, schließlich war es ja bis vor kurzem ihr Fall. Klientin verstorben, und, nein, sie kann Harry einfach nicht mit einer silbernen Klobürste in Verbindung bringen. Und Rafael nicht damit, an ihre Bedürfnisse zu denken. Sie ist neugierig, und er ruft gewiss nicht nochmals an, wenn er seine Antworten hat. Männer sind solche Egoisten! Sie starrt wütend auf ihr Handy und schleudert es in die Handtasche. Die kurze Lebensdauer ihrer technischen Geräte ist unter anderem auf Lieblosigkeit zurückzuführen.
In Afrika war es wärmer, und der Himmel war nicht auf den fahlen Mond angewiesen. Es ist so lange her, und nie wird sie die Sehnsucht nach der Weite verlieren und den Sternen über der Wüste. Sie steht auf und geht zurück ins Lokal, ins Leben, in den Lärm, in die multiplizierte Einsamkeit der Großstädter, die der komplizierten Frage nachhängen, wer mit wem was treiben könnte.
Der Filmagent hat eine kleine Blondine gefunden, die mit ihm Champagner trinkt, und Anna stellt sich neben die beiden an die Theke, denn sie ist durstig und muss den sauren Geschmack in ihrem Rachen vertreiben. Vodka mit Eiswasser: Freddy ist ein Barkeeper, der sich hellseherischer Fähigkeiten rühmt. Er errät mit hoher Trefferquote, wonach seine Gäste dürsten. Er gibt Anna sogar Feuer, obwohl er Sibylle ständig damit droht, zu kündigen, falls sie ihr Lokal nicht umgehend zur Nichtraucherzone erklärt.
»Wer könnte der armen Rosi so etwas antun?«, sagt die Blondine, die eigentlich Schauspielerin ist, doch derzeit Klamotten verkauft.
»Heerscharen«, antwortet der Agent und tätschelt ihre nackte Schulter. Wenn sie nett zu ihm ist, wird er ihr eine kleine Rolle vermitteln. Vielleicht. »Schätzchen, unsere Rosi hatte eine Menge Feinde: Autoren, Schauspieler, Produzenten… aber ich war ihr Freund, gewissermaßen. Sie brauchte mich, und zu solchen Leuten war sie immer ganz lieb. Obwohl sie es, glaube ich, lieber hatte, wenn man sie fürchtete.«
»Nenn mich nicht Schätzchen«, sagt die Blondine. »Ich heiße Lola, und eigentlich bin ich rothaarig.«
Lola rennt, denkt Anna, doch die Blondine bleibt stehen und duldet ein beruhigendes Schultertätscheln.
Anna stört seine Kreise. »Meinst du, ich könnte Jacob Lenz interviewen? Ihr seid doch befreundet.«
»Als was? Ex-Rosis Ex-Detektivin?«
»Ich bin eigentlich Journalistin«, sagt Anna und registriert den mitleidigen Blick der Blondine. »Ich laufe schon lange außer Konkurrenz«, flüstert sie ihr zu, und der Filmagent, der Anna gern loswerden möchte, verspricht ihr, bei Jacob ein gutes Wort für sie einzulegen. »Wenn er besoffen oder high ist, macht er fast alles«, fügt er hinzu.
»Na, dann musst du ihn nur im richtigen Augenblick erwischen. Meine Nummer hast du ja. Ich würde mich freuen, wenn’s klappt.« Anna legt einen Geldschein auf die Theke, den Freddy mit flacher Hand einstreift. Er legt Wert auf elegante Gesten, auch in der größten Hektik. »Stinktier«, flüstert er ihr zu, als er ihre Wange zum Abschied küsst. Dies hier ist ihre Familie. Sie hat keine andere.
Anna lässt sich von Sibylle umarmen, bevor sie das Lokal verlässt. Es ist immer schwer, nach Hause zu gehen. Es sind nur ein paar Schritte, zwanzig nach rechts, und an der Bäckerei quer über die Straße, dann steht sie vor der Haustür, die nach Farbe schreien würde, wenn sie sprechen könnte.
Das Offnen der Tür erfordert einen Schlüssel, der in den Tiefen ihrer Handtasche verborgen ist. Das Leben wäre einfacher ohne Schlüssel und Handtaschen.
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