Marx, my Love
erwacht aus ihren Tagträumen. Sie steht auf und öffnet. Ein böser Blick, Anna lächelt entschuldigend und geht zum Waschbecken. Der Seifenspender ist silbern, und ihre Hände sind ringlos. Sie ist nicht der Typ, den Männer mit Schmuck überhäufen. Philipp hat ihr einmal Ohrringe geschenkt, die sie einer Freundin gab, als er sie verließ. Zumindest hat sie sie nicht in den Rhein geworfen wie die Uhr. Sie sollte versuchen, mit Hanni Pelzer zu sprechen. Und sich endlich aufraffen, Rafael zurückzurufen. Aus ermittlungstechnischen Motiven, wenn sie schon keine anderen Gründe finden will.
Sie holt ihr Handy aus der Tasche und wählt seine Nummer. Die Mailbox: Immer, wenn sie einen Anrufbeantworter bespricht, fehlen ihr die Worte. Das große Mundwerk versagt, wenn es ernst wird. Ist es ernst? Fünfzig Jahre und wenig dazugelernt. Nur das: Liebe ähnelt einem Kriminalroman – wer das Ende kennt, verliert das Interesse.
12. Kapitel
»Harry ist verschwunden«, sagt Rafael. Anna unterdrückt einen Ausruf des Entsetzens, der ihre Angst verraten könnte, dass Harry guten Grund dazu haben könnte. Stattdessen ergreift sie seinen Arm, gedacht als beruhigende Geste. Doch er schüttelt sie ab und sieht sie vorwurfsvoll an. »Der ganze Ärger hat begonnen, als du ins Haus kamst.«
»Das war Zufall«, erwidert Anna. So defensiv. Es ist ein Wunder, dass Lily, die Spionin, ihm noch nichts von ihrer Profession erzählt hat. Oder Schlimmeres als ein Wunder, denn manchmal glaubt sie, die Elfe zu sehen, und in ihren Albträumen hat sie längst einen Platz gefunden. Dort trägt Lily Flügel.
Jeder Engel ist schrecklich. Als Kind hat Anna an einer Weihnachtsaufführung teilgenommen, und einer ihrer Flügel aus Pappmaché fing an einer Kerze Feuer. Er brannte, und Josef löschte die Flamme mit Weihwasser, während Maria an der Krippe nur hysterisch schrie. Ihre Schulkameraden im Publikum lachten, weil sie dachten, dass Anna wieder einen ihrer Scherze inszenierte. Der Pfarrer behauptete später, es sei ihre Ungeschicklichkeit gewesen. Noch nie sei in der Kirche etwas angebrannt. Anna ist, wenn überhaupt, ein gefallener Engel.
An der Seite eines Rafael, der mit ihr durch den Park geht und sie ab und zu von der Seite ansieht, als trage sie alle Schuld auf ihren breiten Schultern. Er wirkt müde und besorgt, und sie würde ihn gerne trösten oder sich zumindest hinsetzen und von allem ausruhen. So fühlt man sich im Zustand der Überforderung. Marlowe war Detektiv, Gewohnheitstrinker und gelegentlich Liebhaber, und er hatte keine Schwangeren und Schmollenden, die ihn von seinen Fällen ablenkten.
Rafael bewegt sich schnell, als wolle er sie abhängen. Das Gesicht so grimmig; sie hat keine Ahnung, was er denkt.
Auf der Wiese sonnen sich Punker mit gepiercten Freundinnen und verwachsenen Hunden in den letzten Strahlen. Sie halten nichts von dem Aufruf, die Berliner Grünanlagen sauber zu halten, um den Haushalt der Stadt zu entlasten. Politik ist kein Thema, denn sie wird von Marsmenschen gemacht. Anna kickt eine Bierflasche aus dem Weg. Sie ist um keinen Deut besser als der Rest der Gesellschaft, denn sie hätte sie aufheben können. »Sprich mit mir«, sagt Anna. »Wann ist er verschwunden? Gab es einen aktuellen Grund?«
Rafael nimmt die Flasche und wirft sie in einen Mülleimer. »Die Polizei war wieder da. Sie wollten ihn abholen. Das hab ich ihm erzählt, als er mittags nach Hause kam. Danach gab es Streit mit Lily, dann ist er weg und blieb es auch. Er hat seinen Rucksack mitgenommen und die Kamera. Auf einem Zettel, der in der Küche lag, hat er hinterlassen, dass er für eine Weile untertauchen muss. Harry war noch düsterer als sonst an diesem Mittag. Als ob er überhaupt keinen Ausweg mehr sieht. Und er wollte mir nichts sagen.«
Er hebt noch eine Flasche auf. Irgendwie stört sie dieser Säuberungstick.
»Ich mache mir Sorgen um Harry. Und du hast ewig nicht zurückgerufen. Ich verabscheue unzuverlässige Menschen.«
Ich auch, denkt Anna, aber ich kann dir so wenig von dem, was ich fürchte, erklären. »Mein Handy war vorübergehend verschwunden. Ich habe es irgendwo liegen lassen.«
Sie setzt sich auf eine graffitiverwüstete Parkbank und zieht ihn auf ihre Seite. »Ich kann nicht mehr laufen. Ich möchte, dass alles zum Stillstand kommt.«
»Dann bist du tot«, sagt Rafael.
Der junge Mann, dessen unvollkommene Schönheit sie berührt und abstößt, lehnt seinen Kopf auf die Banklehne und schließt
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