Marx, my Love
Arme trinken ohne Ansehen der Person auf alles, was sie begehren oder fürchten.
Annas Computer hat sich von ihr verabschiedet und als letzten Gruß einen flimmernden, dann schwarzen Bildschirm hinterlassen. Ihren Wutanfall nahm er ohne Gegenwehr oder tätige Reue hin. Ihr virtueller Berater, eigentlich Informatikstudent, ging nicht ans Telefon. Also ist sie in Sibylles Kneipe geflohen und sitzt an der Bar vor einem Mochito, den Freddy ihr ausgegeben hat. Er ist verliebt, ein Zustand, der ihn in großzügige Raserei versetzt und dazu verleitet, zu viel Rouge aufzutragen. Freddy lächelt ohne Unterlass und zeigt auf einen Jüngling mit schwarzen Haaren, den Anna im ersten Augenblick far Rafael hält. Bis er sich umdreht. »Er ist Boxer«, sagt Freddy. »Ist das nicht wahnsinnig aufregend?«
»Doch«, erwidert Anna und fragt nach Sibylle.
»Sie ist in der Küche. Schlitzauge hat sich krankgemeldet, er hat schon seit Tagen Depressionen und heulte nur noch vor dem Herd. Sie ist auch nicht in bester Verfassung – oder kommt mir das nur so vor, weil ich so glücklich bin? Sibylle ist ziemlich launisch in letzter Zeit, von euphorisch bis verzweifelt ist alles drin. Sind Depressionen ansteckend, Schätzchen?«
»Nein«, sagt Anna und kaut an den Minzeblättern, um ihren Zigarettenatem zu verbessern. Wer weiß, vielleicht tritt der Eine ins Lokal, und alles wird gut. Ein Mann ohne Ehering, Goldkettchen oder braune Mokassins. Mäßig behaart und zumindest so komisch, dass sie noch über ihn lachen kann, wenn er sie verlassen hat.
Freddys Boxer steht jetzt neben ihr und lässt seine Muskeln unter einem dünnen, engen T-Shirt spielen. Er hat deutlich mehr davon als Hanni Pelzer, die Frau der Strategeme, von Rosi Stark zu einer perfekt funktionierenden Geldmaschine gezüchtet. Klein, grau und listig. Extrem bissig. Annas Lüge mit den beiden polnischen Mädchen hat wunderbar eingeschlagen. Es kann ja nichts mehr passieren, sie sind schon weg aus Berlin. Hat Fjodor zumindest behauptet, als sie ihn im Treppenhaus traf.
Fjodor möchte sie engagieren, um eine russische Emigrantenzeitung »zu zerstampfen«. Seine Worte, er bebte vor Entrüstung, als er Anna von der Kritik an seinem Tschaikowsky-Vortrag erzählte. Sie war vernichtend, und das Ganze sei nichts weiter als ein persönlicher Rachefeldzug eines russischen Journalisten, den Fjodor schon sehr lange mit Leserbriefen quält. »Stalinistenschweine«, nannte er die Mitglieder der Redaktion, und er forderte Rache in der Form, dass das Blatt eingestellt werden müsse. »Irgendwas findet man immer«, sagte Fjodor, und er zählte Geldwäsche, Steuerbetrug, illegale Beschäftigung und Rauschgift auf.
Fjodor wedelte mit besagter Zeitung vor Annas Gesicht, während er sich zunehmend erregte. »Ich bin gekreuzigt worden!«, schrie er durchs Treppenhaus, und Frau Gülem, die im vierten Stock wohnt, kam nach draußen und spähte nach unten. »Leide leiser!«, brüllte sie, bevor sie ihre Tür zuschlug. Sie ist eigentlich Deutschlehrerin, doch sie verdient ihr Geld bei einer Telefonsex-Firma, weil ihr dies die Möglichkeit gibt, zu Hause zu arbeiten und bei ihrem Baby zu bleiben. Herr Gülem ist verschwunden, weil er das schreiende Kind nicht ertragen konnte. »Kennst du einen, kennst du sie alle«, sagte Frau Gülem einmal zu Anna, als sie gemeinsam an der Bushaltestelle warteten. Doch Kinder seien ein Wunder, das zu bestaunen sie niemals müde werde.
Nach der Intervention flüsterte Fjodor, dass Anna sofort in Aktion treten müsse und Geld keine Rolle spiele. Warum nicht? fragte sich Anna, denn er ging ihres Wissens keiner Beschäftigung nach, die ihn ernähren könnte. Onkel Wanja? Sie sagte ihm, dass sie zurzeit an einem anderen Fall arbeite, sich aber darum kümmern werde. Ein Versprechen, das sie niemals einzulösen gedachte. Die Vertagung gefiel ihm nicht, doch er ließ Anna ziehen, nachdem sie ihm nochmals versichert hatte, wie wunderbar sein Gesang gewesen sei.
In ihrem Büro fand Anna ein Fax ihres Steuerberaters, der dringend um Kontaktaufnahme bat. Die Post warf sie ungeöffnet auf den Schreibtisch, es waren ja doch nur Rechnungen. Dann setzte sie sich an den Computer, um einen Brief an den Klienten zu schreiben, dessen gestohlenes Fahrrad sie trotz intensiver Suche nicht wiedergefunden hatte. Denken Computer mit und strafen sie Lügen? Denn bevor sie zu Ende tippen konnte, gab das Gerät seltsame Laute von sich, um dann den Geist aufzugeben. Weshalb sie ihren Vorsatz,
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