Marx, my Love
den Abend ohne Gesellschaft und Alkohol zu verbringen, ad acta legte.
Im »Mondscheintarif« ist Liebe allgegenwärtig. Freddy und der Boxer küssen sich über die Theke hinweg, und Anna sieht zur Seite. Scham ist ein Gefühl, das heutzutage unangenehm auffällt. Sie schämt sich, weil sie die Szene nicht mag. Das ist Berlin, und manchmal fühlt sie sich in dieser homoerotisch aufgeladenen Stadt wie provinzielles Strandgut. Viel zu romantisch, um Exhibitionismus erotisch zu finden.
»Sind sie nicht ein schönes Paar?« Sibylle hat Sushi, die sie beim Japan-Service bestellt und auf Teller drapiert hat, unter das Kneipenvolk gebracht. Wer rohen Fisch mit grüner Paste nicht mag, hat Pech gehabt, denn an diesem Abend gibt es mangels Küchenpersonal nur dies oder die Buletten vom Vortag.
»Entzückend«, sagt Anna und sieht ihre Freundin forschend an. »Alles in Ordnung mit dir?«
Ein Kopfschütteln. »Ich habe nochmals darüber nachgedacht. Es ist vielleicht doch keine so gute Idee.«
Oh verdammt, sie hätte wissen müssen, dass die Euphorie nicht lange anhält. Sibylle hasst Entscheidungen wie der Teufel das Weihwasser. Selbst bei einer Weinbestellung gerät sie ins Schwanken. Und nun das. »Es ist keine Idee, Sibylle, sondern etwas sehr Konkretes. Und wenn du etwas unternehmen willst, dann mach es gleich. Lass dir morgen einen Termin geben.«
Sibylle ruft Freddy zu, dass sie ihn nicht für Sex bezahle, und er zieht seine Zunge aus dem Boxermund. »Nur nicht neidisch sein.« Er zwinkert Anna zu und stellt ihr ein Glas Bier hin. Woher weiß er, dass sie eines bestellen wollte? Steht es auf ihrer Stirn geschrieben? Und Sibylle hat keinen Grund, jetzt beleidigt hinter die Theke zu gehen und sich ein großes Glas Milch einzuschenken.
»Hör mal, ich kann dir die Entscheidung nicht abnehmen. Was immer du tust, ich bin einverstanden.«
»Was will sie tun? Ihren Journalisten abschießen und sich einen richtigen Kerl nehmen?«
»Halt die Klappe, Freddy.« Sibylle überblickt ihr Zuhause, die Freunde und Fremden, die es mit ihr teilen. Sie kann sich kaum vorstellen, mehr als einen Abend pro Woche nicht hier zu sein. Dies hier ist das richtige Leben, eines, das sie davor bewahrt, eine einsame alte Frau zu werden. Es wird immer Männer geben, manchmal auch Frauen, und nie die Leere von Abenden, die man allein vor dem Fernseher verbringt. Die Angst, dass das Leben vorbeigeht, bevor sie es gelebt hat, ist bodenlos. Wenn sie einmal in dieser Stimmung ist, die sich vermutlich als Todesangst beschreiben lässt, erscheint ihr jede verpasste Gelegenheit als ein weiterer Schritt in den Abgrund. Die Hölle des Nichts. Sie kann nicht allein sein. Und vermutlich auch nicht zu zweit. Mit einem Wesen, das ganz und gar von ihrer Person abhängig ist, ihrer Zuwendung, Fürsorge, Zuverlässigkeit. Eine gnadenlose Liebe wäre das, und sie ist ihr nicht gewachsen. Auch nicht mit Annas Hilfe. Oder der eines Vaters, den sie ohnehin nicht eindeutig identifizieren könnte. Und wenn schon: Die Geschäftsgrundlage war Sex, nicht familiäre Verpflichtung.
Einmal nur, ein einziges Mal in ihrem Leben, ist Sibylle vom Vorsatz der belanglosen Beziehung abgewichen. Es ist lange her, sie war noch so jung damals. Eine hübsche, dumme Person, die von einer Karriere am Theater träumte. Und auf einen Jacob Lenz traf, der damals berühmt war und als Gastprofessor in ihrer Theaterklasse unterrichtete. Sie hat ihn angebetet und er sie verführt, in der Konstellation der Abhängigkeiten keine originelle Geschichte. Nur, dass sie ihn liebte. Ausschließlich, verzweifelt und hoffnungslos liebte. Sie wollte ihn heiraten. Sie war so naiv. Keiner Verstellung fähig, sodass ihm ihre ungestümen Gefühle schmeichelten, doch sicher auch erschreckten. Diese Liebe dauerte ein Jahr. Dann las sie in der Zeitung, dass er Rosi Stark heiraten werde. Sie schrieb ihm Briefe, sie rief ihn an, sie forderte seinen, ihren, Rosis Tod, doch er wich ihr feige aus. Sibylle wollte sich das Leben nehmen, aber die Schlaftabletten reichten nicht aus, und es endete damit, dass sie ihr den Magen auspumpten. Jacob schickte Blumen ins Krankenhaus, an dem Tag, als sie in den Illustrierten Fotos von seiner glanzvollen Hochzeit brachten.
Sibylle erinnert sich daran, dass sie Stunden damit zubrachte, diese Fotos mit einer Nagelschere zu zerschnipseln. Es waren dunkle Tage, Wochen und Monate. Sie verließ die Schauspielschule und begann zu trinken. Wahllose Männerbekanntschaften, sie ließ
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