Marx, my Love
sich mit fast jedem ein, der ihr einen ausgab. Ein Wunder, dass sie diese Zeit überlebt hat, ohne körperlichen Schaden zu nehmen. Weil es eine Form der Selbstzerstörung war, die viel schlimmer war, als Schlaftabletten zu schlucken. Weil sie immer, wenn sie ihn oder Rosi sah oder über die beiden las, diesen nagenden Schmerz spürte. Zwei Leute, die auf ihre Kosten glücklich waren. So empfand sie es jedes Mal. Und dass es Unrecht war… nun, es ist vorbei.
Es ist nie vorbei.
Sie hat Anna nichts davon erzählt, dies ist ein Kapitel ihres Lebens, das sie hütet wie einen schrecklichen Schatz. Sibylle zapft Bier, während Freddy Cocktails mixt, als würde er dafür bezahlt. Was natürlich der Fall ist, aber manchmal führt er sich auf, als würde er ihr eine Gefälligkeit erweisen. Er ist zickig, ihr Koch ist depressiv, sie ist schwanger, und die Studentin, die kellnert, leidet an Magersucht. »Mondscheintarif« ist der falsche Name, sie sollte die Kneipe in »Villa Freud« umbenennen.
Es ist eine Nacht des großen Durstes, jeder trinkt darauf, etwas verloren oder gewonnen zu haben, und Anna starrt melancholisch auf hetero- und homosexuelle Pärchen, die sich berühren, streicheln, küssen. Welchen Grund haben sie, hier zu sein, wenn nicht den, in anderen Neid zu erwecken? Verfluchte Exhibitionisten, und manchmal ist es schwerer als sonst, allein zu sein.
Sie hat große Lust, Rafael anzurufen, doch selbst wenn er käme, was keineswegs sicher ist, würde sie doch wieder das Falsche sagen oder tun. Woher soll sie die Sicherheit nehmen? Sie kann nicht einmal ihrer Freundin helfen, die beste Wahl zu treffen. Und würde man jemals wissen, was richtig oder falsch ist, wenn die Alternative immer Fiktion bleibt?
Sibylle lacht zu laut und verbreitet hektische Fröhlichkeit. Sie wirkt wie aufgezogen. Zum ersten Mal fühlt Anna, dass unter dieser Leichtlebigkeit ein großer Zorn verborgen ist: jedes Lachen ein unterdrückter Wutanfall.
Sie sieht Sibylle ihren Journalisten umarmen, der in Begleitung einer dunkelhäutigen Schönheit gekommen ist. Wir sind so frei, Gefühle einzusperren. Jede Lebensruine hat ihre prächtige Fassade, und Sibylle kann gar nicht so oberflächlich sein, wie sie sich zeigt. Es wäre gut für sie, wenn sie das Kind bekäme. Anna denkt an Frau Gülem aus dem vierten Stock und ihr verklärtes Gesicht, als sie auf das schreiende Bündel schaute, das um den Bauch gebunden war. Eine Liebe sollte man schon haben.
Und an diesem Abend wird Anna sie nicht mehr finden. Sie lässt anschreiben und winkt Sibylle zu, während sie sich den Weg zur Tür freikämpft. Manchmal ist es nützlich, groß und stark zu sein, wenn auch nur äußerlich. Bei Hanni Pelzer ist das Verhältnis genau umgekehrt. Sie könnte so gut wie jede oder jeder andere zur Klobürste gegriffen haben, denkt Anna. Töten ist keine Kunst, sondern nur der nächste, ultimative Schritt aus der moralischen Gewohnheit. Wenn wir nur Macht über unser Leben haben und sie missbrauchen, weil es zu misslingen scheint, dann ist die Macht über ein anderes Leben ein göttliches Gefühl. Eine Verzweiflung. Die Mutprobe auf dem Weg zur Hölle.
Anna weicht einem kleinen Mann im Ledermantel aus, der einen Bullterrier an der Leine führt. Sie überquert die Straße, gerade noch, bevor ein Wagen mit überhöhter Geschwindigkeit vorbeirast. Der Passant pfeift Die Internationale, und sie stellt sich vor, dass er ein Stasi-Offizier war und jetzt nur noch ein Arbeitsloser mit bissigem Hund ist, auf der Suche nach Opfern. Vielleicht hätte er gelacht, wenn man sie überfahren hätte? Es war ein schwarzer Mercedes, und er fuhr mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Die Stadt ist ein gefährliches Pflaster, voller Lebensruinen, Verrückter und solchen, die es noch werden. Es wäre schön, mit Sibylle nach Italien zu ziehen.
Kein Fernsehen: Das Programm ist noch schlimmer als in Deutschland, und das will etwas heißen. Italien wird ein Traum bleiben, und sie findet wieder einmal ihren Schlüssel nicht, als sie ihn ein paar Schritte vor dem Haus in der Handtasche zu suchen beginnt.
»Hallo, Anna.«
Sie sieht von der Tasche hoch auf einen Engel, der aus dem Schatten ins Licht der Straßenlaterne tritt. Dieser hier hat eine Glatze.
15. Kapitel
Lily trägt einen langen, giftgrünen Wollmantel, obwohl es eine warme Nacht ist. Flügel sind nicht zu erkennen, doch der Wind spielt mit einem gelben Seidenschal, der sie wie ein Lichtschein umgibt. »Ich habe lange
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