Marx, my Love
gewartet«, sagt Lily und bringt es fertig, dies nicht vorwurfsvoll klingen zu lassen.
»Ich war bei meiner Freundin«, erwidert Anna und ärgert sich über ihren defensiven Ton. Sich einfach vor eine Haustür zu setzen und zu warten ist anachronistisch. Selbst Lily muss von der Erfindung des Handys gehört haben. Anna hat den Schlüssel gefunden und hält ihn in der Hand, abwartend.
Die großen Augen sind auf Anna gerichtet, als wollten sie deren Gedanken röntgen. »Ich habe Durst und Hunger«, sagt Lily, und Anna schließt auf und fragt sich, warum sie dieses Wesen so bedrohlich findet. Weil es ein Kind ist, das boxen lernte? Und seine erotischen Abenteuer hinter Gucklöchern findet?
Lily folgt ihr durch das dunkle Treppenhaus, das Licht funktioniert wieder einmal nicht, doch niemand schreit, singt oder stöhnt in dieser Nacht in diesem Haus, und Anna liebt sie alle für ihre Rücksichtnahme. Vielleicht schlafen sie schon.
»Eine schöne Wohnung«, sagt Lily, nachdem Anna ihr Türschloss im Dunkeln gefunden hat. Es liegt im Auge des Betrachters, denkt Anna und führt die Besucherin in ihr Büro, den größten Raum, den einzigen, den sie aufgeräumt hinterlässt. Nur die Blumen auf dem Schreibtisch sind verwelkt. Roter Mohn, den ihr die Blumenhändlerin immer schenkt. Ihre ein wenig verwirrte Mutter war verschwunden und wurde von Anna gefunden. Es war leicht, denn beide Male war die alte Frau auf dem Spielplatz und schaukelte. Sie wollte in den Himmel, wie sie Anna ganz vernünftig erklärte. Doch er war fern.
»Ich habe Milch, Brot und Käse. Ist das in Ordnung?«
Lily nickt und sieht sich neugierig um. Sie findet Gefallen an dem Gummibaum und dem Bild, das eine Frau zeigt, die ihren Mantel geöffnet hat und darunter nackt ist.
»Bist du Exhibitionistin?«, fragt sie Anna, die mit einem Tablett zurückkommt.
»Nein.« Anna stellt Essen und Trinken ab und schenkt sich ein Glas Whisky ein. Sie setzt sich hinter ihren Schreibtisch, als ob sie eine Barriere gegen Lily bräuchte. Das Leichtgewicht isst, als ob es seine erste oder letzte Mahlzeit wäre. Ein Kind. Sie erinnert Anna an die Alte, die in den Himmel schaukeln wollte. Sie sollte Mitleid mit Lily haben, doch es fällt ihr schwer. »Ich brauche dich wohl nicht zu fragen, woher du meine Adresse hast.«
»Ich bin dir einmal gefolgt. Aber ich habe Rafael nichts verraten. Um ihn geht es auch gar nicht, sondern um Harry. Er ist weg… und ich will, dass du ihn findest.«
Sie möchte nicht, sie will. Anna zieht unter dem Schreibtisch die Schuhe aus und wackelt mit den Zehen. »Berlin ist groß. Wenn er überhaupt noch hier ist. Wie soll ich ihn finden, Lily?«
»Du bist Detektivin. Und ich habe Angst, dass ihm etwas geschehen ist.« Lily leckt ihre Finger ab. Sie hat im Verhältnis zu ihrer Winzigkeit große, kräftige Hände. Sie sollte Boxerin werden. Es gibt Väter, die ihre Kinder umbringen, ohne es zu merken. Mütter natürlich auch.
»Harry hatte Angst, verhaftet zu werden, und ist abgehauen. Ganz normal ist das. Wer sollte ihm etwas tun?« Anna ist müde und ein bisschen gereizt. Und Lilys große, flehende Augen ändern nichts daran, dass ihr Ansinnen unmöglich ist.
»Harry war da«, sagt Lily. »Vielleicht hat er gesehen, wer es war.«
Es überrascht Anna nicht, denn sie hat es ja schon von anderen gehört. »Vielleicht hat er sie umgebracht.«
Anna zuckt zusammen, als Lilys zarte Stimme in Gekreisch umschlägt. »Nein, das hat er nicht. Ich habe ihn die ganze Zeit gesehen. Ich stand hinter der Tür des Vorratsraums. Harry war nicht in der Toilette. Er war im Gang. Ich schwöre es.«
»Hast du das der Polizei erzählt?«
Lily, wieder mit zarter Stimme: »Ich wollte es ja. Aber ich hatte Angst, dass sie mir nicht glauben. Und Harry war so wütend auf mich, weil ich ihm versprochen hatte, ihm nicht mehr zu folgen… ich musste ihn doch beschützen.«
»Wovor?«
»Die Geschichte mit der Produzentin war ein Missverständnis, verstehst du? Sie war nicht schlecht, sie hätte ihm sein Geld bezahlt, da bin ich ganz sicher.«
Jede von Lilys Antworten provoziert mehrere Fragen. Anna sieht auf ihre Uhr: Es ist nach Mitternacht. Keine der letzten Nächte war mit ausreichendem Schlaf gesegnet.
»Ich wollte mit ihr reden – über Harry. Damit sie versteht, dass es ihm gar nicht ums Geld ging, sondern um Gerechtigkeit. Und dann hätte sich alles gelöst. Aber dazu ist es ja nicht mehr gekommen.«
Lilys Naivität ist bodenlos. Eine Schauspielerin.
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