Marx, my Love
möchte eine gute Antwort geben. Nur fällt ihr leider keine ein.
»Wir können ihn da nicht liegen lassen. Er zerfällt. Das möchtest du doch nicht, oder?« Das tut er sowieso, Anna. Er ist tot. Sie sollte aufhören, Unsinn zu reden.
Lily schüttelt den Kopf.
»Er muss ins Leichenschauhaus. Die Polizei wird kommen. Und sie werden dich mitnehmen. Aber ich glaube, dass sie dich später in ein Krankenhaus bringen und nicht ins Gefängnis.«
»Ich will aber nicht ins Krankenhaus«, sagt Lily.
Die Täterin, das Opfer: Anna hat Probleme, das eine vom anderen zu trennen. Lily sitzt jetzt aufrecht vor Anna und beginnt zu weinen. Ganz still sitzt sie, schluchzt oder heult nicht, nur die Tränen laufen ihr übers Gesicht. Anna ist so hilflos, dass sie wütend wird. Auf die Produzentin, die Harry demütigte. Auf Harry, der Lilys Liebe zu leicht nahm. Und auf Rafael, der all dem zugesehen und nichts getan hat. Sich fügen heißt lügen. Ein Satz, den Anna nie vergessen hat.
Nicht immer berücksichtigt, das ist wahr. Aber in wichtigen Augenblicken fällt er ihr ein. Und sie bringt es nicht fertig, wütend auf Lily zu werden. Allenfalls auf sich selbst.
»Die Pistole, Lily: Wo ist sie?«
Lily öffnet die Kühlschranktür, und als sie sich umdreht, hat sie die Waffe auf Anna gerichtet. Ihre Augen sind groß und weit weg. »Ich wusste nicht, wohin ich sie…«
»Gib mir die Waffe, Lily«, sagt Anna sanft. »Ich werde sie für dich aufbewahren.«
Ihre Hände berühren sich, und Lilys Finger sind so kalt wie die Pistole, die Anna in ihre Handtasche steckt. Ihr Handy klingelt, und sie greift danach, obwohl es niemanden gibt, den sie jetzt sprechen möchte. Es ist Rafael, und seine Stimme klingt gehetzt und anklagend. »Wo zum Teufel bist du?«, fragt er. »Wir waren vor deinem Haus und sitzen jetzt in dieser Kneipe bei deiner Freundin. ›Mondscheintarif‹ ist ein blöder Name.«
Er ist ein Idiot. »Ich bin zu euch gefahren«, sagt Anna und malt für Lily ein R in die Luft. »Du hättest ja vorher anrufen können. Lily ist neben mir. Harry ist im Prinzip auch da, aber andererseits auch wieder nicht.«
»Bist du betrunken?«
»Ratlos«, sagt Anna. Und das ist die einzige Wahrheit.
20. Kapitel
Sie hat Lily einfach dagelassen. Anna hat ein Taxi gerufen und ist nach Hause gefahren, in ihr zweites Zuhause, Sibylles Kneipe, die durchgehend geöffnet ist von zehn bis ein Uhr morgens, oft länger, wenn die Vergnügungssüchtigen kein Ende finden und auch die Wirtin nicht allein ins Bett gehen möchte. In dieser Straße ruft niemand die Polizei wegen Lärmbelästigung, das Delikt ist eine lässliche Sünde, die mit wuchtigen Worten oder entbehrlichen Gegenständen aus Fenstern geahndet wird.
Annas Straße: Sie fühlt sich besser, als sie aus dem Taxi aussteigt und das Schild »Mondscheintarif« sieht. Sie musste Lily schwören, dass sie wiederkommen wird. Eine zweifache Mörderin wartet auf sie. Nein, es war Totschlag in beiden Fällen, und man wird Lily auf ihre Zurechnungsfähigkeit untersuchen lassen und vielleicht für immer wegsperren. Die Gesellschaft muss sich vor ihren gefährlichsten Irren schützen. Die lebenden Toten, getarnten Kranken, das mörderische Pack der gut gelaunten Ausbeuter – sie alle laufen frei herum, und Anna auch. Sie ist wütend und traurig, und ihre Füße schmerzen. Die falschen Schuhe, und wie kann man vorher wissen, welche Entscheidung die richtige ist? Sie hatte nicht eine Sekunde Angst vor Lily, nur Lichtjahre von Mitleid, aber auch das war falsch. Diesen Engel zu enttäuschen kann böse enden. Und trotzdem: Sie dem auszuliefern, was Gesetz und Ordnung genannt wird, erscheint Anna als Verrat. Lily vertraut ihr. Sie ist das ewige Kind, das an Erwachsenen gescheitert ist. »Sie ist irre«, murmelt Anna, während sie die drei Stufen hochsteigt und die Glastür öffnet.
Die Kneipe ist leer bis auf Fjodor und den Boxer, der mit Freddy an der Bar sitzt und ein Gespräch der Versöhnung führt. Sibylle steht an der Küchentür und winkt Anna zu sich. Sie flüstert: »Ich habe Rafael und Joy nach oben in meine Wohnung geschickt. Fjodor hat so viel gegessen und getrunken, dass du das niemals bezahlen kannst. Du siehst furchtbar aus. Was ist passiert?«
»Zu viel«, flüstert Anna zurück.
Sie zieht ihre Schuhe aus und folgt Sibylle mit bloßen Füßen in den ersten Stock, in eine Wohnung, die ihre Freundin vor Jahren bezogen, aber nie wirklich eingerichtet hat. Es stehen immer noch
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