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Marx, my Love

Marx, my Love

Titel: Marx, my Love Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Grän
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ohne ihn auszukommen? Anna ergreift mit einer Hand den Griff, die andere ist immer noch um die Nase gepresst. Sie öffnet den Deckel mit einem Ruck…
    … und stößt einen Schrei aus, der mehr ein Stöhnen ist, Ausdruck von Überraschung, Entsetzen, Ekel und dem Wunsch, anderswo zu sein, überall, nur nicht hier.
    Harrys gebrochene Augen sehen durch Anna Marx hindurch. Sein Mund ist geöffnet, es sieht aus, als fletsche er die Zähne, grinse sie an mit der Überheblichkeit eines Toten, der alles Leiden hinter sich hat. Die Haut hat einen leichten Grünton. Das weiße T-Shirt, das er trägt, ist in Brusthöhe rotbraun gefärbt, um eine Stelle, die ein Loch aufweist. Er liegt mit angewinkelten Beinen und gefalteten Händen in einem Sarg, der ihn nur für kurze Zeit frisch und kalt bewahrt hat, bevor er ihn der Verwesung preisgab. Dem Geruch des Todes, den hungrigen Käfern und Würmern…
    Anna schließt den Deckel mit einem Knall und geht rückwärts zur Tür. Sie denkt an nichts, bewegt nur ihre Beine… und stößt, als sie an der Tür ist, mit ihrem Rücken gegen ein Hindernis. Jetzt schreit sie auf, laut und gellend. Dreht sich um und steht vor einem Engel im Hochzeitskleid. Glatzköpfig. Mit Augen, in denen das Wissen um das steht, was Anna gerade gesehen hat.
    »Ist er tot?«, fragt Lily.
    »Sehr tot.« Anna zieht Lily weg in Richtung des Hauses. Sie schleift sie beinahe hinter sich her und lässt ihren Arm erst los, als sie vor dem geöffneten Fenster stehen. Hier erscheint Anna der Geruch erträglich, beinahe angenehm. Es könnte faules Obst sein. Sie holt tief Luft. Es ist verrottendes Fleisch. »Gibt es was zu trinken im Haus?«
    Lily nickt und stemmt sich nach oben, sie scheint nie durch die Tür zu gehen, und Anna folgt ihr auf diesem Weg durch Harrys Zimmer in die Küche. Im Kühlschrank finden sich Vodka und Wasser, und Anna trinkt beides aus der Flasche, erst den Schnaps, und zündet sich dann eine Zigarette an. Ihre Hände zittern, und ihre Beine fühlen sich an wie Watte. Es ist drei Uhr nachmittags, und sie war auf den Tod nicht vorbereitet. Man ist es nie. Als der Junge überfahren wurde, schloss sie sich zwei Tage in ihrer Wohnung ein und betäubte sich mit Whisky. Sibylle hat sie da rausgeholt, und das Leben ging weiter. Das Leben geht immer weiter. Manchmal weiter, als es erlaubt ist.
    Lily sitzt am Küchentisch. Sie hat den Kopf auf die Arme gelegt und sieht Anna an, als wüsste diese Antworten.
    Anna bleibt stehen und lehnt sich gegen den Kühlschrank. Es geht ihr unerheblich besser, zumindest kann sie wieder denken und sprechen. »Hast du ihn da hineingelegt?«
    »Ja«, sagt Lily. »Da hat das Ding noch funktioniert. Ich wollte ihn so behalten, ich wusste ja nicht… der arme Harry. Ich mache immer alles falsch. Seit ich auf der Welt bin, Anna, mache ich alles, alles falsch.«
    Lily beginnt zu weinen, und Anna kann gar nicht anders, als zu ihr zu gehen und sie tröstend zu streicheln. Auch Lily riecht nach Tod. Nein, es ist der Geruch von Mottenkugeln, das Kleid, das sie nicht zur Hochzeit mit Harry tragen wird. »Was ist geschehen, Lily? Willst du es mir erzählen?«
    Lily hebt den Kopf und sieht Anna flehend an. »Es ist alles so schrecklich… wirst du mir denn verzeihen?«
    Anna bejaht es und hat nicht das Gefühl, dass sie lügt. Lily ist ein furchtbarer Engel, aber nicht einer, den sie fürchten muss. Anna setzt sich auf den Tisch, und Lily legt den Kopf in Annas Schoß. Sie spricht leise und langsam anfangs, so, als ob sie die Vergangenheit erst ausgraben müsste mit bloßen Händen. Weil sie sie doch vergraben hat, mit der Erde des Vergessens zugeschüttet.
    »Ich bin Harry gefolgt, in das Lokal, du weißt schon. Er hat mich erst nicht gesehen, er war doch hinter der Produzentin her, und ich dachte, er wird mit ihr reden, und alles wird gut. Weil sie immer so freundlich zu mir war. Sie wollte einen Star aus mir machen, stell dir vor… und dann ist sie wieder zur Toilette, und sie war ganz allein da drin, und da ist Harry ihr nachgegangen, und ich bin hinterher, als er schon mit ihr gesprochen hat. Sie kniete vor der Kloschüssel, und Harry redete auf sie ein. Ich weiß gar nicht mehr, was er zu ihr sagte, ich war so aufgeregt, und dann hat sie sich zu ihm umgedreht, ich stand draußen im Waschraum, aber die Tür war offen, und sie hat mich im Spiegel gesehen. Unsere Augen haben sich getroffen, und sie hat mir zugelächelt, aber es war ein grausames Lächeln. Und dann hat sie

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