Marx, my Love
angefangen, ihn zu beschimpfen. Er sei eine Ratte, hat sie gesagt, und dass sie ihn zertreten werde. Weil er ein lästiges, kleines Tier ist, und sie nicht zulasse, dass er in ihrem Leben herumwühlt. Ich bin stark genug, dich zu vernichten, Harry Loos, das sagte sie, und ihre Stimme war fest und gar nicht laut. Mein Vater hat immer so mit mir gesprochen, wenn er böse auf mich war, und ich konnte mich überhaupt nicht dagegen wehren. Und Harry stand auch nur da, und ich sah seinen gekrümmten Rücken. Und Lily dachte, dass sie etwas tun muss, um ihm zu helfen, also sie ist rein und hat Harry weggestoßen und nach dem erstbesten Ding gegriffen. Sie wollte nur, dass die Frau still ist, verstehst du, Anna?«
Anna nickt, und es ist die Wahrheit. Sie versteht.
»Die Frau musste wieder erbrechen und beugte sich über die Kloschüssel, und Lily hat mit diesem Ding auf ihren Kopf gezielt. Damit sie still ist. Nicht mehr Worte und Galle herauswürgt… und dann gab es nur noch dieses Geräusch, als ob Glas zerspringen würde…«
Die simple Kunst des Mordens, denkt Anna und findet sich nicht einmal frivol. Vielleicht war es der Anblick von Harrys Leiche, der Lilys Worte jetzt fast leicht erscheinen lässt, wie Regentropfen, die zu einer Überschwemmung führen können, nur weiß man es vorher nicht. Und dann, in der Erzählung der Vergangenheit, ist die Tragödie nur noch Geschichte, eine traurige Geschichte, die so und nicht anders ablaufen musste. Es gibt nichts mehr, was anders gemacht werden könnte. Keine Korrekturen an Taten, nur noch Schuld und Sühne. Lily erzählt, als wäre sie Zuschauerin, nicht Akteurin gewesen. In der Nacht, die schon sehr lange vorbei scheint, hat sie Anna gesagt, dass sie nur Filme mit Happy End mag. Liebesfilme, Komödien, alles, was leicht und lieb ist. Doch einer hat dieses beschissene Drehbuch geschrieben. Lilys Vater? Ein Psychiater wird hinterfragen und aufschreiben. Lilys Geschichte, von ihr selbst in der dritten Person erzählt, weil sie sich als Totschlägerin nicht ertragen kann.
»Und Harry?«, fragt Anna sanft.
»Ach, Harry. Lily hat es doch nur für ihn getan. Sie wollte ihn vor dieser Frau beschützen. Er hat Lily weggezogen und ist mit ihr durch die Hintertür hinaus auf die Straße und dann nach Hause. Er dachte zuerst, dass die Produzentin nur verletzt ist. So eine wie die bringt man nicht so leicht um, sagte er zu Lily. Doch dann hat er es in den Nachrichten gehört, und er war sehr böse auf Lily. Er wollte nicht mehr mit ihr sprechen. Und dann hat Lily mitbekommen, wie Harry zu Rafael sagte, dass er weggehen müsse, weit weg von Lily. Und dass Rafael auf Lily aufpassen soll, weil sie krank ist. Ich bin doch nicht krank, Anna?«
Anna will diese Frage nicht beantworten. »Und Lily hat nicht ertragen, dass er fortgeht.«
»Ich bin froh, dass du das verstehst. Lily hat versucht, mit ihm zu reden. Sie ist ihm ins Gartenhaus gefolgt. Und da war diese Pistole, sie gehört Rafael. Und als Harry nicht zuhören wollte, hat Lily die Pistole genommen, und sie versuchte, ihn… ich weiß nicht… zu erschrecken? Sie wollte, dass er bleibt oder sie mitnimmt, eins von beidem. Aber Harry wollte ihr die Pistole wegnehmen. Er sagte, dass er schon gepackt hat und sich durch nichts aufhalten lässt. Da hat Lily abgedrückt. Weil es keine andere Möglichkeit gab. Was hätte sie tun können?«
Nicht schießen, denkt Anna. Aber wer weiß, wenn sie damals eine Waffe gehabt hätte, als sie Philipp zum letzten Mal sah… sie hätte ihn zu gerne sterben sehen in dieser letzten Szene.
Lily sieht zu Anna hoch. »Er war nicht sofort tot, aber sie hat ihn in den Armen gehalten, bis er nicht mehr geatmet hat. Er wollte nicht, dass sie einen Arzt ruft, sonst hätte er das doch gesagt, oder? Harry hat nur noch gelächelt, weißt du, als ob er froh wäre, dass alles so gekommen ist. Danach hat Lily ihn in die Kühltruhe gelegt. Er war leicht wie eine Feder, und sie ist viel stärker, als sie aussieht.«
Niemand ist stark genug. Arnold Schwarzenegger vielleicht, aber würde der aus Liebe töten? Anna sieht auf Lilys kahlen Kopf und ist so ratlos wie nie zuvor. Sie weiß schon, was das Richtige wäre: Lily ins Bett schicken und die Polizei anrufen. Johannes Täufer, der Joy nachjagt und nichts von einer dritten Leiche weiß. Vielleicht wäre er sogar nett zu Lily und würde sie nicht übermäßig quälen. Nein, das erscheint ihr nicht als beste Lösung.
»Was machen wir jetzt?«, sagt Lily, und Anna
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