Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
Mama nahm die ersten beiden Stufen. Daran erinnerte sich Emer ihr ganzes Leben lang; genau zwei Stufen. Auf der zweiten hatte sie oft gesessen. Ihre Mutter blieb stehen und wandte sich um und lächelte Emer zu. Dann ging sie weiter.
»Ich will sie kennenlernen«, sagte Scarlett.
»Wen?«
»Deine Tansey«, sagte Scarlett.
Das Krankenhaus lag hinter ihnen. Der Verkehr war übel; der Wagen kam nicht von der Stelle.
»Okay«, sagte Mary. »Falls wir es je nach Hause schaffen oder so.«
»Werden wir! Ich kenne eine Abkürzung!«
»Das hier ist die Abkürzung.«
»Himmel, du hast ja recht! Na ja, auch egal!«
»Bis wir daheim sind, ist sie womöglich nicht mehr da«, sagte Mary. »Und ich weiß nicht, in welchem Haus sie wohnt.«
»Dann eben morgen«, sagte Scarlett.
»Okay.«
Der Wagen vor ihnen setzte sich in Bewegung …
»Na endlich!«
… um einen halben Meter.
»Oh, Kacke!«
»Nicht solche Ausdrücke, Mama.«
»’tschuldigung!«
Irgendwann kamen sie doch zu Hause an. Inzwischen war es dunkel, und in der Küche saßen Marys Brüder, Killer und Dommo, und glotzten hungrig den Kühlschrank an.
»Seht ihr das, Jungs?!«, sagte Scarlett.
Sie öffnete die Kühlschranktür, drückte sie zu und machte sie wieder auf.
»So funktioniert das.«
Sie lachten nicht. Sarkasmus erkannten sie auf hundert Meter; sie mochten ihn nicht. Scarlett mochte ihn genauso wenig, besonders dann, wenn sie ihn selber an den Tag legte.
»Tut mir leid, Jungs«, sagte sie. »Es ist bloß … Wir waren im Krankenhaus und Oma hat nicht mal die Augen geöffnet. Das ist nicht einfach.«
Sie nickten.
»Und es hat ewig gedauert, bis wir zu Hause waren.«
Sie nickten erneut. Einer von ihnen sprach.
»Ist okay.«
Mary ließ Wasser in den großen Topf laufen.
»Seht ihr das, Jungs? So funktioniert ein Wasserhahn.«
»Mary«, sagte ihre Mutter. »Wir mögen keinen Sarkasmus.«
»Ihr vielleicht nicht«, sagte Mary. »Ich schon.«
Sie stellte den Topf auf den Herd und lauschte dem wunderbaren, gefährlichen Fupp, mit dem das Gas sich entzündete. Sie legte den Deckel auf den Topf, damit das Wasser schneller heiß wurde.
Scarlett holte eine Packung Muschelnudeln aus dem Schrank – und hielt inne. Mary sah, und die Jungen sahen es auch: Ihre Mutter weinte.
Die Jungs drückten sich aus ihren Stühlen. Standen bewegungslos da. Mary schob sich zwischen ihnen hindurch.
»Ihr gestattet?«
Und sie umarmte Scarlett.
»Das nennt man eine Umarmung, Jungs«, sagte sie. »Kosten: gleich Null, irgendwie.«
Scarlett lachte und die Jungs brachten ein Lächeln zustande – jedenfalls etwas in der Art. Sie aßen die Nudeln und die Jungs erledigten den Abwasch, bevor sie nach oben verschwanden.
Mary blieb allein mit Scarlett zurück. Ihr Vater ging dienstags direkt von der Arbeit zum Hallenfußball und kam deshalb immer spät nach Hause, verschwitzt, verspannt und in der Regel humpelnd.
»Versuchen wir es?«, sagte Scarlett.
Mary wusste, was sie meinte.
»Okay.«
Sie gingen nach draußen. Es regnete, aber nur leicht, und kurz darauf standen sie geschützt unter den Bäumen. Es war nicht kalt. Nachts waren die Bäume lauter, die Geräusche der vom Wind bewegten Äste, der gegeneinanderreibenden Blätter. Oft klang es, als wären die Bäume voller flüsternder Menschen – besonders heute Nacht.
Sie standen auf der Straße. Niemand war zu sehen. Niemand führte seinen Hund aus, niemand war auf dem eiligen Weg in die Kneipe, keiner kam spät nach Hause, keiner ging zur Bushaltestelle. Es war noch stiller als gewöhnlich.
Trotzdem warteten sie.
»Ein paar Minuten noch«, sagte Scarlett.
Sie wusste nicht wirklich, was sie erwartete. Sie versuchte, sich aus dem, was Mary ihr über Tansey erzählt hatte, einen Reim zu machen.
Es war noch nicht lange her, dass Marys Zimmer von ausgedachten Freunden und Tieren bevölkert gewesen war. Mary hatte sie alle sehen können. Königinnen waren darunter gewesen, Elefanten, andere Mädchen und dann solche Dinge wie für jeden sichtbare Teddybären, die aber nur Mary sehen und hören konnte. Vielleicht war Tansey die neueste von Marys ausgedachten Freundinnen, womöglich die letzte – ein letzter Abschiedsgruß an ihre Kindheit. Tansey – im Lauf der Jahre hatte Mary diesen Namen ihre Großmutter viele Male aussprechen hören. Mary hatte ganze Wochenenden im Haus ihrer Großmutter verbracht, stets umgeben von alten Fotografien und Geplauder. Jetzt lag ihre Großmutter im Sterben, also hatte Mary
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