Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
sich Tansey womöglich ausgedacht, um eine Leerstelle auszufüllen.
Aber Scarlett glaubte nicht ganz daran. Da lag etwas in Marys Stimme, wenn sie über diese Tansey sprach. Das war anders, weniger sachlich als sonst. Die ausgedachten Freunde waren für Mary immer wirklich gewesen, so wirklich wie ihr Bett und die Regale in ihrem Zimmer, so wirklich wie ihre übrige Familie. Aber wenn sie über Tansey sprach, lag da etwas in ihrer Stimme: Zweifel. Mary mochte sich fragen, ob sie diese alte Frau, die so jung wirkte, tatsächlich getroffen hatte. Aber der Zweifel in Marys Stimme ließ Scarlett ziemlich sicher glauben, dass Tansey existierte.
Sie existierte. Aber wer war sie?
»Ihr sucht mich hier draußen.«
Sie hörten sie, bevor sie sie sahen. Sie schien hinter einem der Bäume hervorgetreten zu sein, auch wenn das ihnen beiden entgangen sein musste.
Mary zeigte sich nicht überrascht.
»Hi, Tansey«, sagte sie.
»Auch hallo«, sagte die Frau.
Sie trug dasselbe altmodische Kleid, dieselben großen, mit glänzendem Matsch beschmierten Stiefel.
Sie musterte Scarlett.
»Ich kenne dich«, sagte sie.
»Ich kenne dich auch«, sagte Scarlett.
Sie hasste es und sie weigerte sich strikt, an Zeiten zu denken, als sie es nicht gehasst hatte. Mit ihren Eltern zu verreisen, fremde Orte aufzusuchen – ganz gleich, wo –, weckte in ihr den Wunsch, sich zu übergeben. Sich wirklich zu übergeben – sie konnte es in ihrer Kehle spüren.
Sie hasste es.
»Sind wir bald da?«, fragte ihre Mutter.
Und ihr Vater lachte wieder.
Sie waren auf dem Weg zum alten Zuhause ihrer Mutter in Wexford. Sie fuhren jeden Sommer dorthin, für zwei Wochen, und immer unmittelbar nach Weihnachten, für einige Tage. Seit Scarlett sich erinnern konnte. Und sie hatte es immer gehasst.
Und auch jetzt hasste sie es. Sie hätte es voraussagen können – sie konnte es sehen. Ihre Eltern wurden aufgeregt. Wie kleine Kinder. Ihre Mutter beugte sich aus ihrem Sitz rüber und küsste ihren Vater. Er drehte sich ihr zu, den Blick von der Straße abgewandt, damit sie ihn auf den Mund küssen konnte. Es war ekelhaft, wenn Leute wie sie – dermaßen alte Leute, noch dazu verheiratet – sich küssten, als würden sie einander mögen, aufeinander abfahren.
Sie schaute zum Fenster raus, aber es war immer das Gleiche. Felder und Bäume; die Wicklow Mountains oder so was auf der einen Seite; so gut wie gar nichts auf der anderen.
Ihr Vater bekam eine Glatze. Und ihre Mutter, die schlaksige Emer – die sollte sich schämen. Eine Frau in ihrem Alter, die so etwas machte, dieses Geknutsche, wie alt auch immer sie tatsächlich war – steinalt, fünfundfünfzig oder so. Ihre Mutter war über vierzig gewesen, als sie Scarlett bekommen hatte, fünf Jahre älter als Scarletts Vater. Was genauso ekelhaft war.
Im Wagen war es heiß, selbst mit runtergelassenen Fenstern. Ihr Vater hatte sich die nächste Zigarette angezündet. Winzige Ascheflocken landeten auf Scarletts Arm. Aber sie sagte nichts. Sie hoffte, dass die beiden ihre Anwesenheit vergessen hatten. Hatten sie wohl auch, wenn man sich ansah, wie sie sich abknutschten, direkt vor ihren Augen, den Augen ihrer Tochter.
Ihr Vater war immer am aufgeregtesten, kurz bevor es losging. Tagelang bepackte er den Wagen. Selbst Bilko, ihren Hund – Scarletts Hund –, hatte er schon mal einen ganzen Tag vor ihrer Abreise hinten in den Wagen gesperrt. Das war ein paar Jahre her. Er behauptete, es sei keine Absicht gewesen, Bilko habe sich reingeschlichen, als er gerade nicht hinguckte, aber eigentlich wäre es egal, schließlich könne Bilko nicht Auto fahren. Scarlett weigerte sich, an ein Lachen zurückzudenken; sie war sich sicher, dass sie nicht gelacht hatte.
Bilko war vor ein paar Monaten gestorben. Altersschwäche, hatten sie gesagt – der Tierarzt und ihre Eltern. Er war älter gewesen als Scarlett, die vierzehn war. Im Garten stand ein Schuppen, und Scarlett hatte ihn hinter dem Schuppen gefunden, am Boden liegend und blutend. Sie hatten sie gedrängt, in die Schule zu gehen, und als sie wieder nach Hause kam, war Bilko nicht mehr da. Sie hatten ihn einschläfern lassen.
»Es konnte nicht warten«, hatte ihre Mutter gesagt.
»Ihr habt mich in die Schule geschickt!«
»Das war ein Fehler«, sagte ihre Mutter. »Aber als der Tierarzt sagte, dass Bilko im Sterben liegt, musste ich eine Entscheidung treffen. Es wäre grausam gewesen, länger zu warten. Scarlett, Liebling, es tut mir wirklich
Weitere Kostenlose Bücher