Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
leid.«
»Ihr habt es mit Absicht gemacht!«
Ihre Mutter war auf einem Bauernhof aufgewachsen, der Tod bedeutete ihr nichts. Tote Lämmer, tote Rinder, tote Welpen, Kartoffelsäcke voller toter Kätzchen, tote Krähen – Scarlett hatte immer wieder von alledem gehört. Jetzt weinte ihre Mutter, aber das war Scarlett egal. Sie ging aus der Küche, rauf in ihr Zimmer. Sie suchte den Boden nach Haaren von Bilko ab.
Sie hatten ihr einen neuen Hund versprochen. Sie hatte gesagt, sie wollte keinen; dass es widerlich war, überhaupt daran zu denken, Bilko zu ersetzen, als wäre er eine Glühbirne oder so was. Sie teilte ihnen mit, dass sie ihnen niemals vergeben würde. Sie hatten ihren Hund umgebracht – ihren Hund –, ohne sie von ihm Abschied nehmen zu lassen.
Sie kamen in eine Stadt. Arklow, nahm sie an – oder irgendein anderes Kaff.
Bis er ihre Mutter kennenlernte, hatte ihr Vater keinen Bauernhof je zu Gesicht bekommen. Das hatte er Scarlett unzählige Male erzählt, wann immer sie ihn darum gebeten hatte. Daran erinnerte sie sich: wie er den Bauernhof besucht hatte, fahrig und nervös, weil er die Großmutter ihrer Mutter kennenlernen würde.
»Sie kann Kerle aus Dublin nicht ausstehen«, hatte ihre Mutter ihm erklärt. »Sie findet, dass Kerle aus Dublin praktisch Engländer sind.«
»Das ist doch einfach nur Verbohrtheit«, sagte ihr Vater. »Was ist falsch daran, Engländer zu sein?«
»So ist sie nun mal«, sagte Emer.
»Egal, ich bin ja kein Engländer.«
»Ja, sicher, das weiß ich. Sie kann Dublin halt nicht ausstehen.«
»Aber sie hat dich dort hinziehen lassen.«
»Nun, weil sie wusste, dass es dort Arbeit gab«, sagte Emer. »Man muss auch keine Karotten mögen, bloß weil man weiß, dass sie gut für einen sind.«
»Ich mag Karotten«, sagte Gerry – Scarletts zukünftiger Vater. »Karotten sind völlig in Ordnung.«
»Ich meine ja auch bloß«, sagte Emer – Scarletts zukünftige Mutter.
Das war 1961 gewesen, fünf Jahre bevor Scarlett zur Welt gekommen war. Sie waren mit dem Zug gefahren. Emers Bruder würde sie am Bahnhof von Enniscorthy abholen.
Jetzt, vierzehn Jahre nach Scarletts Geburt – es war Juli 1980 –, fuhren sie wieder zurück nach Wexford, im Auto ihres Vaters. Sie durchquerten Arklow auf der heruntergekommenen Hauptstraße und der Wagen kam kaum von der Stelle. Vor ihnen rumpelte im Schleichtempo ein Traktor her.
»Woran liegt es eigentlich, dass ich jedes Mal, wenn ich aus Dublin rausfahre, hinter so einem verdammten Traktor hänge?«
Niemand antwortete.
»Und es ist immer derselbe Traktor«, sagte ihr Vater. »Lauert irgendwo im Hinterhalt.«
»Armer Gerry.«
»Ja, ich arme Sau!«
Sie waren einfach nur peinlich.
Noch mehr Ascheflöckchen landeten auf ihrem Arm. Es wäre ihr am liebsten gewesen, wenn sie geschmerzt hätten, damit sie hätte schreien können – weil ihr wirklich, wirklich danach war.
Sie erinnerte sich dran, wie ihr Vater ihr von seinem ersten Besuch in Wexford erzählt hatte.
Scarlett saß neben ihm in seinem großen Sessel. »Wo war ich stehen geblieben? Wir stiegen also in Istanbul aus dem Zug …«
»Papa!«
»Okay. Wir stiegen in Enniscorthy aus dem Zug.«
»Wo, nebenbei gesagt, viel mehr los ist als in Istanbul«, sagte ihre Mutter, die in ihrer Ecke saß.
»Mama!«
»Gibt es in Istanbul etwa eine Erdbeermesse, ja?«
»Mama!«
»Oder einen Essighügel?«
»Mama!«
»Okay«, sagte ihr Vater. »In Enniscorthy stiegen wir aus dem Zug. Es war dunkel.«
»Stimmt«, sagte ihre Mutter. »Wie das nachts eben manchmal der Fall ist.«
»Dein Onkel Jim – Baby James – wartete schon auf uns. Netter Kerl.«
»Und ob. Ein ganz feiner Mann. Ist mir ein Rätsel, warum er nie eine Frau gefunden hat.«
»Mama!«
Ihr Vater sprach über Scarletts Kopf hinweg zu ihrer Mutter.
»Bei Ihnen, gnädiges Fräulein, hat es auch ein Weilchen gedauert, bis Sie den Richtigen gefunden hatten«, sagte er.
»Und was für einen Mann ich gefunden habe, gelobt sei der Herr!«
»Ähem«, sagte Scarlett. »Ich bin auch hier.«
»Vorlaut wie immer.«
Ihr Vater schaute zu ihr herunter.
»Jedenfalls«, sagte er, »stiegen wir in den alten Ford deines Onkels.«
»Ich saß vorne«, sagte ihre Mutter. »Weil ich größer bin als dein Vater.«
»Und ganz entschieden älter.«
»Deshalb brauchte ich Raum für die Beine.«
»Jedenfalls«, sagte ihr Vater, »stieg ich hinten ein. Weil ich, wie deine Mutter schon richtig bemerkte, so eine Art kleiner
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