Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
anders«, sagte Mary.
»Mary, werd nicht unverschämt«, sagte Scarlett.
»Ich bin nicht unverschämt«, sagte Mary. »Sie gleicht dir einfach zu sehr, Mama. Ich bringe euch durcheinander.«
Dann begriff sie. »Das ist genau das, was sie will.«
»Was meinst du damit?«, sagte Scarlett.
Mary ergriff Scarlett beim Arm. »Komm schon, ich will nach Hause.«
Es war wichtig – lebenswichtig. Mary musste sie voneinander trennen, ihre Mutter so schnell wie möglich nach Hause bringen.
»Wartet«, sagte Tansey. »Wartet.«
Kein Geräusch drang zu ihnen, nicht mal von einem Auto unten auf der Straße, von Sohlen, auf denen ein Spaziergänger um die Ecke bog, oder von der entfernten Sirene eines Polizei- oder Krankenwagens. Da waren nur, hoch über ihnen, die flüsternden Blätter, die knarrenden Äste. Zum ersten Mal wurde Mary bewusst, in was für einer furchterregenden Straße sie wohnte – falls sie diese Furcht zuließ oder falls sie Furcht verspüren wollte.
Aber sie wollte sich nicht fürchten. Also rannte sie nicht davon. Und sie ließ den Arm ihrer Mutter los.
Sie schaute von Tansey zurück zu Scarlett. Sie sahen immer noch genau gleich aus. Selbst ihre Kleider, die altmodischen Kleider, sahen aus, als stammten sie aus demselben Laden. Nur die Stiefel unterschieden sich. Wäre Mary gerade erst hinzugekommen, wäre sie sich nur einer Sache ganz und gar sicher gewesen: dass die roten Stiefel, die eine der beiden Frauen trug, ihrer Mutter gehörten. Aber es musste nicht zwangsläufig ihre Mutter sein, die sie anhatte.
»Mama?«
Nur eine Frau antwortete.
»Ja?«
Die Frau in den roten Stiefeln.
Das beruhigte Mary.
Es gab weitere kleine Unterschiede – jetzt sah sie es. Der Wind bewegte einen Ast über ihnen, und das Licht der Straßenlampe fiel auf die beiden Frauen. Ihre Kleider waren gar nicht die gleichen. Das ihrer Mutter war neuer, weniger ausgebleicht, und es hatte Reißverschlüsse. Ihre Haare waren dunkler – die Haarfarbe ihrer Mutter. Das kleine schwarze Mal direkt neben ihrem Mund war genau dort, wo es hingehörte. Sie sah auf jeden Fall wie ihre Mutter aus. Tansey – der Geist – war jetzt ganz sie selbst und unterscheidbar genug.
»Das ist merkwürdig«, sagte Mary.
»Was ist merkwürdig, Mary?«, fragte ihre Mutter sanft.
»Du siehst älter aus als sie«, sagte Mary.
Scarlett musterte Tansey.
»Das ist merkwürdig«, stimmte sie zu.
»Ich kann daran nichts ändern«, sagte Tansey. »Ich starb als junge Frau.«
»Aber das ist viele Jahre her.«
»Ich glaube nicht, dass das eine Rolle spielt«, sagte Tansey.
»Aber sicher bist du dir nicht?«
»Ich bitte dich«, sagte Tansey. »Wer kann sich schon einer Sache ganz sicher sein?«
»Also, mir kommt das ungerecht vor«, sagte Scarlett. »Du bist sechzig Jahre älter als ich, aber du siehst fantastisch aus.«
»Ehrlich gesagt, Mädchen«, sagte Tansey, »würde ich ein paar Falten und Zahnschmerzen jederzeit bevorzugen. Ich habe gern gelebt, bis ich starb.«
»Ich hab das nicht wirklich ernst gemeint«, sagte Scarlett.
»Sicher«, sagte Tansey. »Aber ich.«
Sie lächelte – Mary hatte jedenfalls den Eindruck, dass sie es tat.
»So ernst, wie der Tod ernst ist«, sagte Tansey. »Nur damit ihr das wisst.«
Marys Furcht hatte sich, von ihr unbemerkt, in Traurigkeit verwandelt.
»Du sagtest, ich sei deine Großmutter«, sagte Tansey zu Scarlett. »Aber eigentlich bin ich das nicht wirklich, wisst ihr. Die segensreiche Grippe überfiel mich, als ich gerade erst anfing, eine Mutter zu sein.«
»Die segensreiche Grippe«, sagte Mary. »Du klingst wie eine Großmutter.«
»Lieb von dir, dass du das sagst«, sagte Tansey.
Eine Weile schwieg sie. Dann musterte sie Scarlett.
»Deine Mutter war noch ein ganz kleines Ding, als ich starb.«
Sie wandte sich Mary zu. »Noch jünger als du.«
»Ich weiß«, sagte Mary. »Sehr viel jünger.«
»Und ich habe mich immer gefragt«, sagte Tansey, »als ich noch gesund war, wie es wohl sein würde, meine Tochter heranwachsen und sie selber Mutter werden zu sehen.«
Sie lächelte wieder.
»Weißt du was?«, sagte sie. »Du bist der perfekte Doppelgänger deiner Großmutter.«
»Woher willst du das wissen?«, sagte Mary. »Ich bin erst zwölf.«
»Deine Großmutter war auch mal ein Mädchen«, sagte Tansey.
»Mir ist kalt«, sagte Mary.
»Na bitte«, sagte Tansey. »Du klingst sogar wie sie.«
»Okay«, sagte Mary. »Aber hör mal. Das muss aufhören.«
»Was muss
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