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Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Titel: Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Doyle
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aufhören?«
    »Dieses Du-bist-wie-deine-Großmutter-Zeugs. Du bist wie deine Großmutter, du klingst wie dein Großvater, deine Katze bellt wie der Hund deiner Oma.«
    »Mary!«
    »Du bist außerdem genauso frech wie sie«, sagte Tansey. »Aber gut, du hast recht. Kein junges Mädchen will mit einer alten Frau verglichen werden.«
    »Darum geht’s gar nicht«, sagte Mary. »Es ist einfach albern. Mir ist kalt. Ich gehe rein.«
    »Mary!«
    »Ich bin nicht frech«, erklärte Mary Scarlett. »Bin ich nicht. Aber es ist albern. Du siehst wie deine Großmutter aus und ich wie meine. Ja, na und? Deine Großmutter ist ein Geist und meine liegt im Sterben. Und das ist das Einzige, was nicht albern ist.«
    Scarlett sprach leise. Die Äste über ihnen tasteten nach ihren Worten.
    »Was meinst du damit, Mary?«
    Mary deutete auf Tansey. »Warum ist sie hier? Warum ist sie ausgerechnet jetzt hier?«
    Sie wandte sich an Tansey. »Was willst du?«
    »Ich möchte mit Emer reden«, sagte diese. »Ich muss mit ihr reden.«
    »Warum jetzt?«, sagte Mary.
    Sie wusste nicht, warum sie auf diese Weise sprach. Es war, als lauschte sie jemand anderem – der Frau, die sie irgendwann einmal sein würde.
    Es nervte sie und es beeindruckte und es ängstigte – und es beruhigte sie. Weil sie wusste, dass sie recht hatte. Plötzlich war ihre ganze Welt von Toten und Sterbenden erfüllt, von Menschen, die sie liebte, und von Menschen, die sie lieben sollte – und von Menschen, die sie gar nicht kannte, auch wenn sie aussahen wie jene Menschen, von denen sie wusste, dass sie sie liebte. Sie musste es einfach wissen. Zwei Schritte vor ihr stand eine tote Frau, schimmernd, am Rand von Marys Leben. Sie war die Mutter ihrer Großmutter – oder sollte es sein.
    Tansey hatte keine Antwort gegeben.
    »Warum jetzt?«, wiederholte Mary. »Hast du schon mal mit ihr gesprochen, nachdem du gestorben warst?«
    »Nein, hab ich nicht«, sagte Tansey. »Ich habe sie in Ruhe gelassen.«
    »Also, warum dann jetzt?«, sagte Mary.
    »Weil sie mich jetzt braucht«, sagte Tansey.

Sie lag auf dem Bett. Ihre Augen hatte sie geschlossen. Sie schlief.
    Aber das tat sie nicht wirklich.
    Sie hatte Angst vor dem Schlaf. Sie war sich nicht mehr sicher, was Schlaf überhaupt noch war. Jegliches damit verbundene Gefühl von Luxus und Notwendigkeit war fort, genau wie jene wärmende Zuversicht, dass sie aus ihm erwachen würde, sobald er vorüber war.
    Seit ihrer Kindheit war es immer und immer wieder vorgekommen, dass sie plötzlich aus dem Schlaf schreckte und ihr Kopf aus dem Kissen hochfuhr, weil sie im Traum gefallen war – aus ihrem Traum – von einer Klippe, einem Dach – ein plötzliches, fürchterliches Fallen. Aber dann wurde sie wach, blieb wach, und alles war wieder gut. Sie wusste wieder, wo sie war. Die Wand war dort, wo sie hingehörte, ebenso das Fenster. Und Jahre später lag auch noch ihr Mann Gerry neben ihr, sogar dann noch – so schien es –, nachdem er gestorben war. Sie spürte seine Gegenwart, und alle Schrecken verflüchtigten sich, bevor sie auch nur dazu kam, darüber nachzudenken.
    Inzwischen bestand der Schrecken darin, dass sie stürzen, davon aber nicht mehr aufwachen würde. Sie würde fallen und dieses Fallen würde niemals enden.
    Sie war nicht müde. Sie konnte sich schon gar nicht mehr daran erinnern, wie Müdigkeit sich überhaupt anfühlte, wie wundervoll es war, sich behäbig zu strecken und zu gähnen. Und es gibt Gott weiß genug an dir, das du strecken kannst. Sie war sich nicht sicher, warum sie überhaupt solche Angst hatte. Sie mochte ihr Leben, selbst ohne Gerry – nachdem seine Abwesenheit erträglich und die Erinnerung an ihn weniger schmerzhaft geworden war. Aber sie wusste, hatte es immer gewusst, dass es ein Ende gab. Sie hatte ihre Mutter sterben sehen. Sie hatte auf ihrem Schoß gesessen, als es begann, als der Tod sich auf sie gestürzt und sie mitgenommen hatte.
    Die Treppe rauf.
    Ein paar Tage später hatten sie sie nach oben gebracht, damit sie sich verabschieden konnte. Wo geht Mama denn hin? Die Antworten hörte sie nicht. Warum geht sie weg? Sie brachten sie die Treppe rauf. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich an die große, raue Hand ihrer Großmutter geklammert hatte. Sie erinnerte sich daran, dass ihr Vater dabei gewesen war, wie er vor der Tür zu ein paar Männern gesprochen hatte. Sie erinnerte sich an das Geschrei von Baby James, an so viel mehr Leute als sonst in der Küche. Frauen. Millionen von

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