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Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Titel: Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Doyle
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geküsst worden, die sie liebten. Aber trotzdem. Sie war geküsst worden, aber sie wollte trotzdem noch nicht gehen. Sie hatte es immer geliebt zu atmen, besonders an kalten Tagen, nach Luft zu schnappen, sie wieder rauszulassen, sie sehen zu können. Jetzt konnte sie nicht mehr tief einatmen, und dem Bus war sie seit dreißig Jahren nicht nachgelaufen. Obwohl sie – sie erinnerte sich – den Bus immer erwischt hatte. Und selbst die Beschwerden und Schmerzen, die mit dem Alter gekommen waren – sie mochte sie. Es waren Mahner – der Rücken, das Knie, die schmerzenden Handgelenke –, es waren sogar Freunde: Spür das, Emer. Du bist lebendig.
    Emer lag da.
    Ich bin lebendig.
    Ich bin die schlaksige Emer.
    Ich bin die große, gertenschlanke Emer.
    Inzwischen bin ich ein paar Zentimeter kürzer, aber ich bin lebendig.
    »Ich bin lebendig.«

Sie saßen in der Küche.
    »Trinken Geister Tee?«
    »Nein«, sagte Tansey. »Aber ich würde mich trotzdem über eine Tasse Tee freuen.«
    Mary beobachtete, wie Tansey zum Licht hinaufsah. Um die Glühbirne fehlte der Schirm. Scarlett hatte ihn irgendwann zum Reinigen abgenommen, danach aber nie wieder befestigt. Er lag auf dem Kühlschrank, zwischen allem möglichen anderen Zeugs, das darauf wartete, irgendwo anders wieder angebracht zu werden. Tansey blickte mitten in die Glühbirne, ohne auch nur zu blinzeln.
    »Dieses elektrische Licht ist sehr grell«, sagte sie. »Zu meiner Zeit hatten wir so was nicht.«
    »Bei uns auch nicht, als ich noch ein Mädchen war«, sagte Scarlett.
    »Es gab in Dublin noch keine Elektrizität?«, sagte Tansey. »Ich dachte, die gab es damals längst überall.«
    »Nein«, sagte Scarlett. »Auf dem Bauernhof jedenfalls nicht, meinte ich.«
    »Aha«, sagte Tansey. »Das ist eine mächtige Sache, alles in allem betrachtet, aber es wäre trotzdem keine schlechte Idee, es auszuschalten. Unter grellem Licht ist es schwierig für mich, körperlich zu wirken. Ich schätze, es scheint mitten durch mich durch, oder?«
    Das tat es – zumindest hatte es den Anschein. Inzwischen war es nicht mehr beängstigend, aber innerhalb des Hauses wirkte Tansey auf jeden Fall weniger lebendig, als es draußen der Fall gewesen war. Im Licht der Glühbirne wirkte ihr Kleid so, als wäre es viel zu oft gewaschen worden. Tansey sah aus, als spielte sie in einem Film, der in einem nicht ausreichend dunklen Raum auf eine Leinwand projiziert wurde; mit dem Ton war alles in Ordnung, aber das Bild war entnervend verschwommen.
    »Sollte uns jemand überraschen«, sagte Tansey, »bekommt er vielleicht einen Schrecken. Und das wollen wir doch nicht.«
    »Doch, das wollen wir«, sagte Mary. »Aber okay.«
    Sie schaltete das Deckenlicht aus. »Bitte sehr.«
    »Danke.«
    Mary setzte sich wieder hin und musterte Tansey.
    Tansey konnte keinen Tee trinken und sie konnte weder schmecken noch riechen. Aber sie konnte sehen, und sie merkte, wenn das Licht zu grell war, auch wenn die Helligkeit sie nicht zu stören schien. Mary glaubte nicht, dass Tansey Regen oder Kälte fühlen konnte. Aber sie selber war kalt. Mary spürte die Kälte, die von ihr ausging. Es war, als zerrte die Kälte an Tansey, als versuchte sie, sie zu zerbrechen, sie von hier fortzuholen, irgendwohin. Aber auch das war eigenartig – noch eigenartiger –, denn sie sah zugleich ganz entspannt aus.
    Scarlett stand neben dem Wasserkessel und wartete auf sein Summen, damit sie etwas zu tun hatte. Sie füllte Tee in die Tassen, stellte Zucker auf den Tisch – alles Mögliche. Langsam wurde ihr bewusst, wie merkwürdig die Situation war. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht zu zittern. Da saß ein Geist in ihrer Küche, und sie sollte sich verhalten, als sei das normal. Sie wusste, auch wenn sie nicht sicher war, woher, dass etwas Bedeutsames geschehen würde, etwas, das mit ihrer Mutter zu tun hatte.
    Aus dem oberen Stockwerk erklang ein Poltern, als wäre jemand oder etwas umgefallen.
    »Die Jungen«, sagte Scarlett und lächelte. »Meine Söhne.«
    »Die den Quatsch machen, den nur Jungs machen«, sagte Tansey.
    »Ganz genau.« Scarlett lächelte.
    »Werde ich sie kennenlernen?«, sagte Tansey.
    »Ich denke schon«, sagte Scarlett.
    Sie nickte in Richtung Kühlschrank.
    »Das da lockt sie nach unten«, sagte sie.
    »Und was soll das darstellen?«, sagte Tansey.
    »Einen Gefrierschrank oder so was«, sagte Mary und lachte – die Frage war so komisch.
    »So eine Art Sicherheitsbehälter für Fleisch«, sagte

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