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Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Titel: Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Doyle
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Nein, es war nicht Baby James, der mich zurückhielt. Ich wusste, dass Jim und Jims Mutter sich um ihn kümmern würden.«
    Sie sah Mary geradeheraus an.
    »Aber Emer«, sagte sie. »Deine Großmutter. Mit ihr war es anders. Um Emer machte ich mir Sorgen. Ich war länger am Leben geblieben, als irgendwer es für möglich gehalten hatte. Haben sie dir das jemals erzählt?«, fragte sie Scarlett.
    »Ja«, sagte Scarlett. »Es hieß, du hättest gekämpft und ständig nach Emer gefragt.«
    »Das freut mich«, sagte Tansey. »Ich wollte, dass Emer es erfuhr, sobald ich gegangen war. Dass ich mein Möglichstes getan hatte. Ich bin froh, dass sie es wusste. Wenn ich weinen könnte, würde ich jetzt weinen, Mädels.«
    Sie lächelte.
    »Es war also Emer, die einen Geist aus mir machte«, sagte sie. »Der Gedanke an sie ließ mich nicht frei. Ich musste erst sicher sein, dass es ihr gut gehen würde.«
    »Es ging ihr großartig«, sagte Scarlett.
    »Aber ich war mir nie sicher«, sagte Tansey.
    Scarlett stellte eine Tasse vor Tansey ab.
    »So, bitte sehr.«
    Und eine vor Mary. Dann setzte sie sich.
    »Jedenfalls«, sagte Tansey, »war das der Grund dafür, dass ich verweilte.«
    »Niemand hat je einen Geist erwähnt«, sagte Scarlett. »Oder – Entschuldigung – einen kalten Fleck oder so was im Haus, der du …«
    »Nein, nein«, sagte Tansey. »Vom Haus hielt ich mich fern. Ich wollte weder den Frieden stören noch in irgendetwas eingreifen. Aber in der Nähe blieb ich trotzdem, ich konnte nicht anders.«
    Sie schaute hinunter in ihren Tee.
    »Aus Tee habe ich mir eigentlich nie viel gemacht«, sagte sie. »Ihr wisst schon, so wie andere Leute, die durchdrehen, wenn sie nicht jede Stunde eine frische Tasse kriegen. So war ich nie. Aber jetzt …«
    Sie lächelte erneut – da war nichts Trauriges in ihrem Lächeln. »Diesen Tee würde ich wirklich gern schmecken können.«
    »Es ist bestimmt nicht leicht, ein Geist zu sein«, sagte Mary.
    »Ja, das stimmt«, sagte Tansey. »Es ist schwieriger, als zu leben. Besonders, wenn du jung stirbst, so wie ich. Ich hoffe, ich deprimiere die beiden Damen hier nicht zu sehr.«
    »Nein!«
    »Überhaupt nicht.«
    »Ich fühlte mich schrecklich schuldig, versteht ihr? Dagegen konnte ich gar nichts tun, und kann es bis heute nicht. Weil ich zu früh und zu schnell gestorben war. Ich wusste, dass ich nicht dafür verantwortlich war, aber selbst wenn man tot ist, kann man gegen seine Gefühle nichts machen. So. Und jetzt trinkt euren Tee. Mir geht es großartig, hört auf, mich so anzustarren.«
    Mary und Scarlett gehorchten. Mary war der Tee viel zu heiß, aber sie sagte nichts. Sie nippte daran und verbrannte sich die Zunge, und sie wusste dabei, dass sie das Richtige tat, nämlich Tansey gegenüber Ruhe zu bewahren.
    »Gut«, sagte Tansey. »Wie ich schon sagte, ich war besorgt und sehr aufgebracht. Es gab Dinge, die ich nicht beendet und um die ich mich zu wenig gekümmert hatte. Wobei es wohl jeder Mutter so ergehen würde, wenn sie ihre Kleinen zurücklassen müsste, denke ich.«
    »Den Vätern aber auch«, sagte Mary.
    »In der Tat«, sagte Tansey. »Du hast recht, du hast recht. Aber die traurigsten Geister – ob männlich oder weiblich – sind immer die, die jung sterben, wenn ihre Kinder noch klein sind, gerade erst eingeschult wurden oder gerade erst heranwachsen. Diese armen Geister leiden schrecklich darunter. Also bleiben sie. Sie verweilen. Wisst ihr, ich hasse dieses Wort, verweilen. Es klingt viel zu freundlich. Sie bleiben, um nach dem Rechten zu sehen. Um, wenigstens für eine Weile, ihre Kinder heranwachsen zu sehen. Um sicherzugehen, dass mit ihren Kindern alles in Ordnung ist.«
    »Ist es das, was mit dir passiert ist?«, fragte Mary.
    »Genau das«, sagte Tansey. »Ich konnte Emer nicht zurücklassen.«
    »Aber warum bist du so lang geblieben?«
    »Allmächtiger«, sagte Tansey. »Das ist die Frage.«

Scarlett war fünf, als sie ihre Mutter weinend im Melkstand vorfand. Es war am zweiten Tag der Sommerferien. Über Nacht, während alle schliefen, hatte es aufgehört zu regnen. Scarlett wohnte in einem Zimmer ganz oben im Haus, direkt unter dem Heuboden, und sie konnte die Mäuse über sich hören, was ihr aber keine Angst einjagte. Sie fand Mäuse niedlich.
    Sie zog ihre Ferienkleidung an, die zerlöcherte alte Jeans und ihre Plastiksandalen, und nahm vorsichtig die hölzernen Stufen, die von ihrem kleinen Zimmer auf den Treppenabsatz führten, und dann die

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