Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht
nächsten Stufen hinunter in die Küche. Mit jeder Stufe, die sie hinunterstieg, wurde der Geruch nach gebratenem Speck stärker. Aber sie hatte es nicht eilig. Sie ging langsam, vorsichtig. Wirklich etwas erkennen konnte sie erst, nachdem sie die Biegung in der Treppe umrundet hatte und das Licht, das durch die offen stehende Küchentür in harter, gerader Linie über den Boden bis zum Treppenaufgang fiel, ihr Sicherheit gab.
Die Küche war leer. Das bedeutete, dass sie heute Morgen als Letzte aufgestanden war. Sie lauschte und wusste, dass das ganze Haus leer war. Die Küche war warm und sehr hell, es musste schon ziemlich spät sein. Sie hatte großartig geschlafen. Aber jetzt wollte sie wach sein. Und sie konnte nicht richtig wach sein, bis andere Menschen sie gesehen und gehört hatten.
Sie ging raus auf den Hof.
Weit entfernt hörte sie einen Traktor. Sie wusste, das war ihr Onkel, Baby James. Sie vermutete, dass ihr Vater auf dem Weg zum Laden war, um seine Tageszeitung und die Zigaretten zu kaufen. Also blieb nur ihre Mama übrig, irgendwo. Scarlett rief nicht nach ihr, noch nicht. Sie wollte sie überraschen.
Sie ging zum Gartentor. Eine Drahtschlinge hielt es verschlossen. Es war leicht anzuheben, aber das war unnötig. Sie konnte sehen, dass im Garten niemand war, nur Salatreihen und anderes Gemüse, manches davon mit riesigen Blättern, die breiten, nach vorn gebeugten Schultern glichen, als wollten sie ihre Gemüsebabys beschützen. Die Erdbeerpflanzen mochte sie nicht, denn die wuchsen nicht in die Höhe, sie krochen bloß verstohlen herum. Eine Weile lang schaute sie weiter über den Zaun, nur um sicherzugehen, dass ihre Mama nicht hinter einem der Apfelbäume im hintersten Teil des Gartens auftauchen würde, wo auch die Stachelbeeren wuchsen, zwischen denen – das hatte ihre Mama ihr erzählt – die Leute immer gepinkelt hatten, bevor das Haus mit einer Toilette ausgestattet worden war. Sie wartete noch etwas länger, aber dort hinten war niemand. Den Traktor hörte sie immer noch, und sie hörte das Keckern der Krähen in den großen Bäumen jenseits des Küchengartens.
Als Nächstes ging Scarlett in jenen Stall, der völlig leer war, nur von einem bestimmten Geruch erfüllt. Dieser Geruch war dermaßen widerlich, dass ihr Vater jedesmal, wenn er in diesen Stall schaute, lachte und zu husten begann. Scarlett wusste, dass ihre Mama nicht dort drinnen sein würde, aber sie schaute trotzdem rein, in die Dunkelheit und in den Gestank.
»Hallo?«
Keine Antwort.
Alle Ställe waren mit Kalkfarbe gestrichen, und ihre Wände waren so uneben, als würden sie von großen, flachen Händen hinter dem Kalk nach vorn gedrückt. Onkel Baby James kalkte sie alle paar Jahre neu, aber die Wände im Inneren des leeren Stalls waren mit grünem Zeugs bedeckt, das direkt aus dem Boden daran heraufzukriechen schien. Eine Tür gab es nicht mehr, nur noch zwei rostige Angeln, in denen die Tür früher gehangen hatte. Es war kalt da drin und nicht schön. Aber Scarlett schaute gern hinein, aus sicherer Entfernung. Sie fragte sich, warum dies der einzige Stall war, der nicht genutzt wurde. Der ganze übrige Hof war freundlich und geschäftig. Gestern Abend hatte sie Onkel Baby James diese Frage gestellt.
»Welchen Stall genau meinst du denn?«
»Den mit dem Geruch«, sagte Scarlett.
»Der kommt von den Schweinen«, sagte Onkel Baby James, während er vor der Küchentür aus seinen Stiefeln schlüpfte.
»Es sind keine Schweine drin«, sagte Scarlett.
»Aber ihr Gestank hängt noch eine Ewigkeit in der Luft, nachdem sie draußen sind«, sagte Onkel Baby James. »Himmel, und wie der dort hängt!«
»Warum sind die Schweine nicht mehr da?«
»Weil ich sie weggeschickt habe«, sagte Onkel Baby James. »›Haut ab, ihr Schweine‹, hab ich gesagt. ›Meine Nichte kommt auf Besuch und sie will hier drin pennen.‹«
»Bäh!«
Onkel Baby James betrat die Küche. Er war so hochgeschossen wie Scarletts Mama. Er musste sich bücken, um nicht mit dem Kopf gegen die Küchentür zu stoßen, und wenn er seine Mütze abzog, standen seine Haare nach oben ab, was ihn noch größer wirken ließ. Er setzte sich in den großen Sessel, der seinem Großvater gehört hatte und inzwischen seinem Vater gehörte, auch wenn Jim – Scarletts Großvater – in Wexford im Krankenhaus lag, weil irgendwas mit seinem Magen nicht stimmte. Morgen wollten sie ihn besuchen. Sie wollten ihm Weintrauben mitbringen und Ireland’s Own, seine
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