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Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Titel: Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Doyle
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und an den Wänden kroch auch nichts von dem grünen Zeug hoch. Die glänzenden Maschinen aus Stahl hingen ordentlich an ihren Plätzen. »Mit Elektrik kenn ich mich eigentlich nicht aus«, hatte Scarlett ihren Onkel Baby James zu ihren Eltern sagen hören. Scarlett wusste nicht, was genau er damit meinte, aber sie vermutete, dass es etwas mit den Maschinendingern zu tun hatte, die über die Milchdinger der Kühe gestülpt wurden und so die Tiere für ihn melkten, während er, an die Wand gelehnt, Zeit für ein Schwätzchen hatte. Bis zum Kauf der Maschinen hatte er das alles selber erledigen müssen, unterstützt von Lefty, einem Mann, der weiter oben am Weg gewohnt hatte und der inzwischen in England in einer Fabrik arbeitete.
    Sie betrat den Melkstand. Aufpassen musste sie nicht, weil der Betonboden ja gereinigt und wunderbar sauber war. Sie ging mitten hinein und hörte ihre Mama. Dann fiel ihr Blick auf sie. Sie wusste, dass es ihre Mama war, bevor sie sie richtig erkannte. Ihre Mama versteckte sich nicht etwa oder so. Sie stand nahe der Wand, nicht weit von Scarlett entfernt, und ihre Stirn war gegen den Kalkanstrich gelehnt. Sie heulte nicht, sie weinte bloß, leise und untröstlich.
    »Mama?«
    Ihre Mutter war so groß, dass Scarlett ihr Gesicht nicht richtig erkennen konnte, denn das von außen einfallende Sonnenlicht erhellte nur den Boden und die unteren Wände, aber nicht den oberen Teil des Melkstands.
    Scarlett bemerkte, dass ihre Mutter sich mit dem Ärmel ihrer Strickjacke übers Gesicht wischte. Normalerweise hatte ihre Mama immer ein Taschentuch einstecken, aber heute Morgen musste sie es vergessen haben.
    Scarlett sah, wie sie sich ein wenig zu ihr hinunterbückte und lächelte.
    »Was denn?«
    »Weinst du?«
    »Mhm.«
    »Warum denn?«
    »Weil ich traurig bin«, sagte Scarletts Mama. »Ein bisschen traurig. Oder es jedenfalls war, bis du reingekommen bist und mich gerettet hast.«
    »Hab ich dir den Tag gerettet?«
    »Oh, und wie du das hast!«
    »Ich hab dich gefunden.«
    »Ja, das hast du.«
    Scarletts Hand lag jetzt in der ihrer Mama und das war schön. Sie bewegten sich nicht. Sie blieben im Melkstand.
    »Bist du jetzt immer noch traurig?«
    »Nein, bin ich nicht mehr«, sagte Scarletts Mama. »Wenn du bei mir bist, kann ich gar nicht traurig sein.«
    »Warum warst du denn traurig?«
    »Weil ich an meine eigene Mama gedacht habe.«
    »Die, die vor langer Zeit gestorben ist.«
    »Genau die«, sagte sie. »Und es ist wirklich lange her. Aber immer, wenn ich hierherkomme – na ja, das war früher mein Zuhause, oder? Bevor ich nach Dublin gegangen bin. Deshalb …«
    »Warst du auch wegen dem verlorenen Baby traurig?«, fragte Scarlett ihre Mama.
    Das Lächeln ihrer Mama war immer noch da.
    »War ich«, sagte sie.
    Scarletts Mama hatte ein Baby verloren. Das hatte Scarlett die Leute in der Küche flüstern hören – in der Küche daheim, in Dublin, wo sie wohnten, wenn sie nicht gerade Urlaub machten. Sie hat das Baby verloren. Sie trauert um das Baby. Das war lange her, Scarlett war noch so klein gewesen, dass sie für eine Ewigkeit in der Küche stehen konnte, bevor irgendwer sie endlich bemerkte. Ihre Mama war nicht da, aber das machte ihr keine Angst, denn da war ja noch ihr Papa. Manchmal war das so – dann war sie nicht da, aber er, oder er war nicht da, aber dafür sie. Jetzt, als sie am Tisch stand, beinahe unter dem Tisch, hörte sie von dem verlorenen Baby. Die Frau von nebenan mit den vielen Haaren an den Armen, die McLoughlin hieß und wunderbare Kuchen und süße Brötchen buk – die hatte das gerade geflüstert. Sie trauert um das Baby, Gott stehe ihr bei. Und Scarlett fiel etwas auf: Ihr Vater war auch nicht da. Und wer, fragte sie sich, war das verlorene Baby? Und wie konnte ihre Mama ein Baby verloren haben, wenn Scarlett dieses Baby nie zu Gesicht bekommen hatte, obwohl sie doch immer – jedenfalls fast immer – bei ihrer Mama war?
    Aber sie sagte nichts.
    Sie blieb dort stehen und lauschte.
    Dann wurde sie von den Frauen bemerkt.
    »Du bist wach.«
    »Findet Mama das Baby wieder?«
    »Was?«
    »Oh, Gott steh ihr bei!«
    Sie gaben ihr Kekse und ließen sie länger fernsehen, als sie je zuvor gedurft hatte, und dann kam ihr Papa nach Hause, ganz allein, und nachdem die Nachbarn gegangen waren, erklärte er ihr das mit dem verlorenen Baby.
    »Deine Mama sollte ein Baby bekommen«, sagte er, als sie endlich allein waren. »Aber jetzt nicht mehr.«
    »Warum denn nicht?«
    »Sie

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