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Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht

Titel: Mary, Tansey und die Reise durch die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Doyle
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ihnen jemand entgegen.
    Sie liefen über den Rasen, abseits der Lampen, die große, helle Lichtkreise auf den Fußweg warfen. Hier war mehr los. Viele Menschen verließen das Krankenhaus und kamen ihnen entgegen, manche in kleinen Gruppen, traurig aussehende Leute jeden Alters, Familien, die geliebte Angehörige besucht hatten und sie jetzt zurücklassen mussten. Andere Leute waren allein, hielten müde die Köpfe gesenkt. Kaum jemand schenkte dieser weiteren Familie Beachtung, Tochter, Mutter und tote Urgroßmutter, die so spät am Abend in die falsche Richtung zu gehen schienen.
    »So weit, so gut!«
    Aber jetzt erreichten sie den Haupteingang. Sie mussten den Rasen verlassen und unter den fluoreszierenden Lichtern den Eingangsbereich betreten. Hier war es so hell, dass die Fenster aussahen wie mit glänzendem weißem Lack bestrichen.
    Tansey blieb stehen.
    »Um diese Helligkeit zu durchqueren, brauche ich mehr als eine Kinderhand«, sagte sie.
    »Ich bin kein Kind mehr«, sagte Mary.
    »Wie du meinst«, sagte Tansey. »Also los.«
    Sie hielten sich fest bei den Händen und verließen den Rasen, hielten auf die Leute zu, die in Morgenmänteln und Sandalen vor dem Eingang standen oder in Rollstühlen saßen, plaudernd und hustend, seufzend und lachend. Tanseys Finger wurden unter Marys Griff kein bisschen wärmer. Was Mary jedoch kaum auffiel, weil sie nur Augen für die Leute und deren Gesichter im Eingangsbereich hatte. Sie schaute Tansey nicht an – sie hatte Angst davor. Es war wirklich hell hier, heller als bei normalem Tageslicht. Es war ein schreckliches, Kopfschmerzen erzeugendes Licht, das aller Kleidung und allen Haaren die Farben auszubrennen schien. Alles war grau. Mary dachte gerade, dass Tansey es unbemerkt an all diesen Menschen vorbei schaffen würde, weil jeder hier grau und geistergleich wirkte – als sie ein Keuchen hörte.
    Da saß ein Mann ohne Beine in einem Rollstuhl, außerhalb der Lichtkegel. Er starrte auf etwas neben Mary. Sein Mund stand weit offen. Eine Zigarette hing an seiner Unterlippe. Er hatte sie noch nicht angezündet und die Flamme seines Feuerzeugs versengte ihm eben den Bart.
    »Ein Geist.«
    Mary konnte ihn nicht hören, aber sie wusste, dass dies die Worte waren, die er geflüstert hatte.
    Jetzt sah sie hin.
    Tansey schimmerte. Mary konnte direkt durch sie hindurchsehen, obwohl sie Tanseys Hand hielt, die sich immer noch kalt und fest anfühlte. Aber auch wenn sie sich kalt und fest anfühlte, war sie doch so gut wie kaum sichtbar. Tansey begann zu verblassen. Der Mann im Rollstuhl hatte kein weiteres Wort gesagt. Aber Mary fühlte, wie Tanseys Hand ihr entglitt.
    Jetzt starrten andere Frauen und Männer zu ihnen hin, auf die Stelle, wo Tansey eben noch gewesen war. Auf ihren Gesichtern zeichnete sich eher Verwirrung als Angst ab.
    »Geh einfach weiter!«, sagte Scarlett.
    »Aber …«
    »Tu ganz normal!«
    Normal tun? Mary wusste nicht, was mit ›normal‹ gemeint war. Vor einer Sekunde hatte sie noch die Hand des Geistes einer Frau gehalten, die 1928 gestorben war und die sich, gerade als Mary sie besser kennenlernte, in Luft aufgelöst zu haben schien. Sie wurde von einem Mann ohne Beine und mit brennendem Bart angestarrt – und inzwischen auch von weiteren Leuten.
    Am liebsten hätte sie geweint.
    Aber sie ging weiter. Ihre Mutter ergriff die Hand, die Tansey eben noch gehalten hatte. Unter anderen Umständen hätte Mary das ihrer Mutter niemals erlaubt. Sie war zu alt für so etwas. Aber die Hand ihrer Mutter war warm, und diese Hand, die Finger, versicherten ihr: Ihre Mutter brauchte Mary jetzt – und Mary brauchte ihre Mutter.
    Sie durchquerten den Rauch und die Blicke. Mary hätte sich gern umgedreht, um nach Tansey oder wenigstens nach einer Spur von Tansey zu sehen. Aber sie drehte sich nicht um. Die Eingangstür glitt auf und sie gingen hinein, immer noch Hand in Hand.

Sie betrachtete das kleine Mädchen, das am Brunnen spielte. Dieses kleine Mädchen, ihre Tochter. Das kleine Mädchen ließ Kieselsteine plumpsen, weit nach vorn gebeugt, um zu hören, wie tief sie fielen, bevor sie unten auf das schwarze Wasser trafen.
    Ein kleines Mädchen, aber es wurde mit jedem Tag größer. Aus ihrem grünen Mantel war sie herausgewachsen. Eines Tages, zu Winterbeginn, sah Tansey sie einen neuen Mantel tragen. Dass es Winter war, erkannte Tansey am Winkel des Sonneneinfalls – denn Kälte konnte sie nicht spüren. Sosehr sie es sich auch wünschte, sie konnte es nicht.

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