Masala Highway
dieser Reihenfolge und mit demselben Lappen, der in denselben Eimer mit dunkelbraunem Wasser getaucht wird. Auf meine Nachfrage, ob der Kellner nicht einen anderen Lappen für den Tisch benutzen könne, erntete ich einmal ehrliches Erstaunen und die interessierte Nachfrage: „Kyon?“ – warum? In den Augen des Kellners war das Putzwasser und der Lappen sauber – und mein Wunsch, freundlich gesagt, verschroben. Für viele solcher Situationen mag Vimals Spruch von der göttlich orientierten Hygieneordnung die richtige Erklärung liefern: So wie die linke Hand durch die Benutzung auf der Toilette für einen frommen Hindu unrein wird, ist Wasser etwas Reines – auch wenn der Dreck des Restaurantfußbodens darin schwimmt.
Natürlich ist nicht jedes klebrige Hotelzimmer, sind nicht alle verkrusteten Busse und ekligen Kaschemmen die Folge eines besonderen religiösen Reinlichkeitsverständnisses. Vielleicht ist der Besitzer eines solchen Ortes einfach nur faul – oder er hatte nie die Gelegenheit zu lernen, dass es fürs Geschäft besser ist, wenn alles einen properen Eindruck macht. Aus weniger appetitlichen Situationen zu folgern, Indien sei einfach ein unhygienisches Land, ist aber falsch. Ein Besuch bei einer indischen Familie beweist das Gegenteil. Da wird so lange geputzt, bis kein Krümel mehr auf dem Boden ist.
Die Hintergründe der indischen „Don'ts“ zu kennen, ist allemal nützlich. Einfach weil es leichter wird, sie zu berücksichtigen und die Reaktionen der Mitmenschen zu verstehen. Auf meiner ersten Indienreise habe ich mich lange gewundert, warum während langer, heißer Bahnreisen niemand meine Angebote, Wasser zu teilen, annahm. Immer wieder erlebte ich, dass eine Flasche durch das Abteil kreiste, und sich jeder bediente – aber nicht von meiner. Schließlich fiel mir auf, dass niemand die Flasche mit den Lippen berührt. Jeder hält das Gefäß so geschickt ein paar Zentimeter vor den geöffneten Mund, dass das Wasser als Strahl hineinspritzt. So wird die Flasche nicht durch die Berührung mit den Lippen verunreinigt – und keine Flüssigkeit kann aus dem Mund des Trinkenden in den Behälter zurückfließen. Wer darauf Wert legt – ob aus gesellschaftlich-religiösen Gründen oder einfach, weil er keine Lust auf Herpes hat – wird das Angebot eines Fremden, der gerade eben noch an seinem Flaschenhals gelutscht hat, dankend ausschlagen.
Auch hier kann man als Ausländer auf die Nachsicht der meisten Inder zählen. Schwieriger wird es, wenn es um die wichtigen Fragen des Lebens geht: „Wie, schon über zwanzig und noch keine Kinder?“ In vielen Indern, die gewohnt sind, dass man früh heiratet und früh Kinder bekommt, beginnt es nach so einem Geständnis schwer zu arbeiten. Woran kann es liegen – hat er kein Geld? – nein, das Flugticket kann er ja auch bezahlen. Kein Glück bei den Frauen – wer ist das dann auf dem Foto, dass er gerade herumreicht? Vielleicht etwas Medizinisches …? Spätestens an diesem Punkt wird der Gedankengang heikel, denn er berührt das Thema Sexualität. Kinder kriegen – kein Problem, das ist etwas, über das man viel und gerne spricht. Kinder machen und was damit zusammenhängt ist als Gesprächsthema tabu. Sexualität zu zeigen, erst recht. Selbst in Goa, dem Bundesstaat Indiens, der für seine westliche Orientierung und das Laisser-faire seiner Bewohner bekannt ist, ist es keiner Frau zu raten, sich oben ohne an den Strand zu legen. Filmküsse sind immer noch selten und werden meist nur angedeutet, an die Stelle von Sexszenen treten „Rain scenes“, in denen Hauptdarsteller und -darstellerin im dünnen Hemdchen nass werden. Echte Küsse von verliebten Pärchen sind in der Öffentlichkeit inzwischen häufiger zu sehen als früher, werden aber sparsam eingesetzt.
Warum diese Zurückhaltung im Land des Kamasutra und der Tempel mit mehr als barock wirkenden, barbusigen Steintänzerinnen? Indien ist eines der prüdesten Länder der Welt – und es ist gut möglich, dass dies zu den großen Vermächtnissen ihrer einstigen Kolonialherren gehört. Selten war die Kolonialmacht so stark und übte so viel Einfluss auf das Leben der Inder aus wie zu Zeiten von Königin Viktoria. Ihr Motto zur Sexualaufklärung damals prägte nicht nur die Briten: Lehn dich zurück und denk an England. So ähnlich, wenn auch mit anderer nationaler Denkrichtung, geht es vermutlich heute in vielen indischen Betten zu. Die Veden sehen ein Zuviel an Genüssen als schädlich an, auch
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