Masala Highway
das Kamasutra Vatsayana ist kein Erotikhandbuch für Fortgeschrittene, sondern vor allem ein Regelwerk zum menschlichen Zusammenleben. Allerdings wurde in dem fast 2 000 Jahre alten Bestseller dabei die Sexualität nicht verpönt oder gar verteufelt. Diese Tendenz ist etwas Modernes, und ihre Folge ist ein zwiespältiges Verhältnis zu körperlicher Liebe in der indischen Öffentlichkeit: Alles, was damit zu tun hat – ob ein flüchtiger Kuss in der Öffentlichkeit oder eine zurückhaltende Broschüre zur sexuellen Aufklärung – wird schnell in eine Schublade mit Pornografie und unsittlichem Verhalten geworfen.
Die indische Prüderie kann aber auch entspannend sein. Vielen, denen die Massen an hautfarbenen Rundungen in mitteleuropäischen Innenstädten und knalligen Werbeprospekten zu viel des Guten sind, erscheint der Subkontinent als beruhigend entschärfte Umgebung. Problematisch wird es, wenn Aufklärung Not tut. Wissen über Sexualität in der Bevölkerung zu vermehren, ist schon wegen der Familienplanung dringend nötig. Ein großes Problem ist die immer weiter wachsende Bevölkerungszahl. Genauso wichtig ist Familienplanung aber auch im Zusammenhang mit der Stärkung der Rechte von Frauen – beispielsweise weil die erste Schwangerschaft für die werdende Mutter das Ende jeder Ausbildung bedeutet. 4 Doch Aufklärung ist in einem Land, in dem das Thema Sex generell tabu ist, nicht einfach. Am deutlichsten ist die Konsequenz dieses Problems an der Verbreitung des HI-Virus zu erkennen. In Indien leben über zwei Millionen HIV-Infizierte – nur in Südafrika und Nigeria gibt es noch mehr Menschen, die den Erreger in sich tragen. Gründe sind Prostitution – die, wieder eine Parallele zum viktorianischen England, weit verbreitet ist – sowie geringe Aufklärung über Aids und seine Übertragungswege. Laut Unicef weiß in Indien nur jeder Zweite, wie man sich vor der Immunschwächekrankheit schützen kann. So ist Indien immer noch weit davon entfernt, die Verbreitung von Aids unter Kontrolle zu haben. Sowohl eine staatliche Organisation auf nationaler Ebene als auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen arbeiten daran, die Versorgung von Infizierten zu verbessern. Dazu gehört nicht zuletzt, die Stigmatisierung von HIV-Infizierten zu verhindern. Informationsveranstaltungen oder Aids-Aufklärungsplakate sind jedoch immer noch die Ausnahme im indischen Straßenbild. Tabus sind nicht leicht zu überwinden.
Ist Indien ein Land der Tabus und der unzähligen Fettnäpfchen, die nur darauf warten, dass ausländische Gäste durch sie stapfen? Die meisten Inder sehen das nicht so – und verhalten sich dabei nicht anders als Mitteleuropäer, die das Leben in ihrer Heimat als frei von religiösen Zwängen und gesellschaftlichen Vorgaben preisen. Ich habe mich längst damit abgefunden, dass ich immer auf die Hilfe meiner Gastgeber angewiesen sein werde, um mich an den Klippen der indischen Etikette vorbeizumanövrieren. Immer wieder passiert etwas Neues, bei dem allen anderen außer mir das richtige Verhalten so offensichtlich wie ein Naturgesetz zu sein scheint. Das kaum ein Besucher es schafft, einen Aufenthalt hinter sich zu bringen, ohne einen Fauxpas zu begehen, mag aber nicht nur an der Andersartigkeit der indischen Kultur im Vergleich zu der des Westens liegen. Indien ist in sich selbst heterogen, so vielfältig ist die Mischung aus Religionen, Sprachen und Traditionen, so schnell ist das Land vom vorindustriellen Land der Rajas und Sultane zur modernen Wirtschaftsmacht geworden. Um den alltäglichen Spagat zwischen den vielen Zutaten dieser Mischung durchzuhalten, kann es eigentlich gar nicht genug unausgesprochene Regeln und ungezählte Riten geben.
Fettnäpfchen für Nicht-Inder
Sie wissen schon, dass man nicht in Lederschuhen durch Jain-Tempel stapft, vermeiden heftige Zungenküsse in der Öffentlichkeit und würden in einem indischen Kinosaal niemals mit der linken Hand Popcorn essen? Hier eine Auswahl einiger anderer Fettnäpfchen, in die der Durchschnittseuropäer gerne tapst.
Nerven zeigen. Je touristischer eine Gegend ist, umso hartnäckiger und penetranter treten Straßenhändler auf. Neuankömmlinge reagieren auf unzählige „Hello friend“-Rufe erst genervt, werden dann laut und suchen am Ende ihr Heil in der Flucht oder kaufen alles, was ihnen entgegengestreckt wird. Jemand, der herumbrüllt, wird als sehr unhöflich angesehen. Eine bessere und auch weniger anstrengende Reaktion ist: klar und
Weitere Kostenlose Bücher